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[318] Eng. (Musik)

Man nennt die Harmonie enge, wenn die zu einem Accord gehörigen Töne nah an einander liegen, und weit oder zerstreuet, wenn sie weit aus einander liegen. In der im Artikel Dreyklang befindlichen Tabelle der Dreyklänge1, sieht man bey a, b, c, den Dreyklang in der engen, und bey d, e, f, g, in der zerstreuten Harmonie.

Bey den zur Harmonik gehörigen Lehren und Regeln werden die Intervalle, in welcher Octave sie liegen mögen, für gleich gehalten und bekommen auch dieselben Namen, z. B. e wird die große Terz von C genennt, es sey daß man es in derselben Octave nehme, da C liegt, oder eine, zwey und noch mehr Octaven höher, so daß die Terz eines Tones drey, oder zehen, oder siebenzehen, oder vier und zwanzig etc. diatonische Stufen von ihrem Grundton entfernt seyn kann. So bald man aber auf den würklich vielstimmigen Gesang sieht, so ist es gar nicht mehr gleichgültig, ob die Stimmen weit aus einander, oder nah an einander liegen; denn wenn der Gesang die beste Würkung thun soll, so müssen seine verschiedenen Stimmen innerhalb gewissen Gränzen liegen, die sie weder durch Annäherung noch durch Entfernung überschreiten sollen; und eben dieses hat auch in Ansehung der Orgeln oder Claviere, die man zur Begleitung braucht, statt.

Die Gränzen der Annäherung und der Entfernung scheinen von der Natur in dem Ursprung des harmonischen Klanges festgesetzt zu seyn. Man nehme die im Artikel Consonanz2 befindlichen Notensysteme vor sich, und bemerke, was im Art. Klang gezeiget worden, daß bey Anschlagung des tiefsten Tones alle auf den beyden Systemen angezeichneten Töne mitklingen, und daß eigentlich diese Töne zusammen den Klang des tiefsten Tones ausmachen. [318] Man kann hieraus lernen, 1) daß zwischen dem tiefsten Ton, oder dem, durch den begleitenden Baß angeschlagenen Grundton und seiner Octave kein andrer Ton liegen müße. 2) Daß der völlige Dreyklang seinen natürlichen Sitz in der dritten Octave von dem Grundton habe, da in der zweyten Octave die Quinte des Grundtones, oder vielmehr seine Duodecime allein vorkommt.

Aus dieser von der Natur angegebenen Beschaffenheit des harmonischen Klanges, läßt sich abnehmen, daß in diesen Beyspielen

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die Harmonie bey a die natürlichen Gränzen der Entfernung, bey b aber die Gränzen der Annäherung überschreite.

Ueberhaupt also scheinen so wol für die Stimmen, als für die begleitende Harmonie, folgende Regeln in der Natur gegründet.

1) Dem tiefsten Baßton kann kein Ton näher, als auf eine Octave kommen. So würde z. B. auf einer Orgel, die ein Pedal von 16 Fuß hat, diese Begleitung angehen:

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Wo aber der tiefste Ton eine Octave höher und also von 8 Fuß genommen würde, so müßten die übrigen Stimmen alle auch höher genommen werden, wie hier:

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2) In der kleinen oder sogenannten ungestrichenen Octave3 können die Töne, wenn der Grundton in der großen Octave liegt, nicht wol näher als eine Quarte an einander liegen; ist aber noch ein tieferer Baß vorhanden, so können sie auch schon bis auf Terzen an einander kommen. Also wär' in dem nächst vorhergehenden Beyspiel die Terz H, schon um eine Octave zu niedrig, und um die ganze Harmonie so zu nehmen, wie sie hier liegt, müßte man schon den tiefsten Ton eine Octave tiefer nehmen.

3) Hohe concertirende Stimmen, oder hohe Solostimmen können nicht einen tiefen Baß zur Begleitung haben. Der begleitende Baß kann sich überhaupt von den concertirenden Stimmen, oder von der Solostimme nicht weiter, als bis in die zweyte Octav entfernen; ihm aber auch nie näher kommen, als bis auf eine Octave. Nur wenn Mittelstimmen vorhanden sind, kann sich der Baß von den Hauptstimmen noch um eine Octave tiefer entfernen.

Eine sorgfältige Beobachtung der engen oder entfernten Harmonie trägt sehr viel dazu bey, daß in einem vielstimmigen Stück sich jede Stimme gehörig ausnihmt, und daß das Ganze schön wird.

1S. 280.
2S. 224.
3S. System.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 318-319.
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