Furcht

[412] Furcht. (Schöne Künste)

Diese Leidenschaft kann auf verschiedene Weise und bey mancherley Gelegenheit ein Gegenstand der schönen Künste werden. Es ist leicht zu bemerken, aus was für Absicht die Natur den Menschen die Fähigkeit, Furcht zu fühlen, gegeben hat. Sie dienet fürnehmlich, damit wir durch sie der Gefahr entgehen, die uns drohet. Dieses geschieht entweder durch die Flucht, oder durch den Sieg, den wir über den uns drohenden Feind erhalten.

Der sinnliche Mensch, der nicht gewohnt ist, seinen Zustand von allen Seiten her mit Ueberlegung zu betrachten, noch die Folgen seiner Handlungen zum voraus zu überdenken, geräth in eine träge Sorglosigkeit, wodurch er sich in mancherley Uebel stürzet, dem er durch Furcht, wenn er sie nur zu rechter Zeit gefühlt hätte, entgangen wäre. Oft aber geschieht es auch, daß man durch unzeitige Furcht mitten im Uebel steken bleibt, aus welchem man sich mit einigem Muth würde heraus gezogen haben. Leichtsinnigkeit und Mangel der Ueberlegung machen sorgelos und unbesonnen, so wie sie auch zaghaft machen. Es gehört also zur Vollkommenheit des Menschen, daß er auf der Mittelstraße, zwischen der Unbesonnenheit und Zaghaftigkeit, einhergehe. Dem Künstler liegt ob, keine Gelegenheit zu versäumen, ihm, wo es nöthig ist, das Gefühl der Furcht zu schärfen, oder zu schwächen.

Die Furcht entsteht aus der Vorstellung der Gefahr, diese aber, aus einem vorhandenen oder herannahenden Uebel. Es ist wichtig, daß ein Mensch jedes beträchtliche Uebel, das ihn nach seinen Umständen betreffen kann, kennen lerne. Nun ist es das unmittelbareste Geschäft der schönen Künste, uns alle im menschlichen Leben vorkommenden Vorfälle abzubilden, und uns einigermaaßen das zu ersetzen, was uns an eigener Erfahrung abgehet.1 Also muß der Künstler, der seinem Beruf Genüge leisten will, jedes Gute und Böse kennen, und als ein verständiger und gesezter Mann, der weder unbesonnen noch zaghaft ist, zu behandeln wissen. Denn dieses ist der einzige Weg, den Gemüthern der Menschen, in Absicht auf die Leidenschaft der Furcht, die vortheilhafteste Stimmung zu geben.

Der Künstler muß also keine Gelegenheit versäumen, die Menschen mit allen Arten der Gefahren und des Uebels, denen sie ausgesetzt sind, bekannt zu machen. Die beste Gelegenheit dazu haben die epischen und die dramatischen Dichter, deren eigentliches Werk es ist, die mannigfaltigen Scenen des Lebens uns vor Augen zu bringen. Dem Künstler gebührt dabey zu überlegen, wo er die Gemüther mit Furcht oder mit Muth erfüllen soll. Es giebt gewisse Uebel, die man sich schlechterdings durch [412] Nachläßigkeit oder schlechtes Betragen selbst zuziehet. Für solche Uebel können die Künste nie genug Furcht erweken. Horaz sagt vom gerechten Mann, pejusque leto flagitium timet.2 Für Schand, Laster und einem bösen Gewissen, muß sich jeder Mensch fürchten. Also müssen Dichter und Redner keine Gelegenheit vorbey gehen lassen, diese so heilsame Furcht dadurch zu erweken, daß sie würklich fürchterliche Folgen derselben lebhaft vorstellen. Dadurch erhalten sie, was Aristoteles vom Trauerspiel fodert, daß es die Gemüther durch Erwekung der Leidenschaften, von denselben reinige. Natürlicher Weise könnte man von Menschen, welche ofte durch die Beyspiele, die sie in dramatischen Vorstellungen gesehen, in Furcht gesetzt worden, erwarten, daß sie sich sehr sorgfältig hüten, nicht selbst in die Fälle zu kommen, die sie der ängstlichen Würkung der Furcht aussetzen.

Welcher Vater wird sich nicht sorgfältig hüten, allzustrenge gegen einen Sohn zu seyn, wenn er an fremden Beyspielen fürchterliche Folgen der Härte gesehen hat; und welcher Sohn wird sich nicht auf das Aeusserste angelegen seyn lassen, seinen Vater durch eine Folge von bösen Thaten nicht zur Verzweiflung zu bringen, wenn er fürchterliche Folgen einer solchen Verzweiflung gesehen hat? Wir führen dieses blos als Winke an, wie die Dichter heilsame Furcht erweken können. Ihnen liegt ob, die wichtigsten Vergehungen der Menschen in ihren fürchterlichsten Folgen zu schildern.

Eine heftige Furcht mit Angst verbunden, scheinet eine so entsetzliche Leidenschaft zu seyn, daß der, welcher sie einmal gefühlt hat, den Eindruk davon nie wieder verlieren sollte. Also ist sie natürlicher Weise das beste Verwahrungsmittel gegen Vergehungen. Deswegen ist das Fürchterliche einer der wichtigsten Gegenstände der schönen Künste.

Am vorzüglichsten kann es in dem Drama erwekt werden, weil die würkliche Vorstellung so wol der Gefahr, als des in Furcht gesezten Menschen, der ganzen Sache den höchsten Nachdruk und das wahre Leben giebt. Hierin sind unter den Alten Aeschylus, unter den Neuern Shakespear und Crebillon vorzüglich glüklich gewesen. Wenn das Drama gar keinen Nutzen hätte, als daß es unter allen Werken der Kunst am stärksten die Furcht erweken kann, so wär es blos dieser Ursache halber eine höchst schätzbare Erfindung.

Die Furcht ist auch eine comische Leidenschaft, wo sie zur Unzeit aus Kleinmüthigkeit entsteht, oder aus Zaghaftigkeit übertrieben ist. Sie wird deswegen oft in der Comödie gebraucht, um den Zaghaften lächerlich zu machen: und eben dieses Lächerliche kann den Zuschauer vermögen, sich gegen diese Leidenschaft zu waffnen.

1S. Künste.
2Od. L. IV. 9.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 412-413.
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