Furcht

[214] Furcht ist der Affekt, der aus der Vorstellung eines künftigen (wirklich oder vermeintlich bevorstehenden) Übels entsteht. Ihren seelischen Wirkungen nach gehört sie zu den niederdrückenden und lähmenden Affekten: die ganze Vorstellungstätigkeit ist mehr oder weniger auf den einen (gefürchteten) Gegenstand beschränkt, das Denken also gehemmt, der Wille durch den Trieb, dem bevorstehenden Übel zu entgehen, ausschließlich beherrscht oder bei höhern Graden der F. ganz gelähmt. Äußerlich macht sich die F. bemerklich durch Unruhe der Bewegungen oder starre Bewegungslosigkeit, durch Zittern, Erbleichen etc., Symptome, an denen das Vorhandensein dieses Affekts auch bei vielen Tieren erkannt werden kann. Minderer Grad der F. heißt Bangigkeit, höhere Grade derselben sind Angst und Entsetzen. Die F. vor einem Unbekannten macht das Grauen, die dauernde F. vor einem nur vermuteten Übel die Sorge aus. Gegenteil der F. ist die Hoffnung (s.d.). Wie bei allen Affekten kommt es auch bei der F. auf die subjektive Disposition mehr an als auf den objektiven Anlaß; letzterer ist oft nur eine eingebildete Gefahr, und die bessere Einsicht (des Kulturmenschen gegenüber dem Naturmenschen, des Erwachsenen gegenüber dem Kinde) entzieht in vielen Fällen der F. den Boden, wenn auch das stoische Ideal des völlig furchtfreien Weisen der Menschennatur widerspricht. Ferner lassen Selbstvertrauen und (physisches oder moralisches) Kraftgefühl naturgemäß die F. weniger leicht aufkommen als Mißtrauen gegen sich selbst und Schwächegefühl; letztere bedingen gewöhnlich eine habituelle Neigung zur F., die Furchtsamkeit, während erstere die Grundlagen des Mutes bilden. Soweit jene auf physischen Ursachen beruht, läßt sie sich natürlich auch nur durch deren Hebung beseitigen; sofern die Gründe derselben psychologische sind, kann die Erziehung ihr dadurch, daß sie den Furchtsamen seine eignen Kräfte erproben, die äußern Dinge richtig beurteilen und das Unvermeidliche geduldig erwarten lehrt, erfolgreich entgegenarbeiten. Im geselligen Verkehr tritt die Furchtsamkeit als Schüchternheit und, wenn sie aus Selbstsucht geheuchelt wird, als Kriecherei auf. – Der von F. Ergriffene zeigt eine Reihe von Symptomen, die als charakteristischer Ausdruck seines Affektes erscheinen. Man kann die F. als einen Erwartungsaffekt bezeichnen, der mit der Vorstellung eines die geistige oder körperliche Gesundheit beeinträchtigenden Ereignisses verknüpft ist. Ost entsteht die F. sekundär aus der Angst. Die körperlichen Symptome der F. sind bekannt. Hierher gehört das Herzklopfen, die Atembeklemmung, das Aufschreien und Erblassen. Diese und viele andre Erscheinungen kommen durchaus unwillkürlich, nach Art der Reflexe, zustande. Das Erblassen beruht auf einer Zusammenziehung der Blutgefäße des Gesichts; daß auch bei Tieren die F. ähnliche Folgen hat, lehrt die Betrachtung des Kaninchenohrs, dessen Blutgefäße schon infolge eines Schreies, eines Pfiffs etc. sich verengern. Auch die Fluchtbewegung wie die Umwandlung des Gesichtsausdrucks entstehen unwillkürlich. Ein bemerkenswertes Symptom der F. ist das Zittern; manche Tiere zittern bei schreckhaften Eindrücken so heftig, daß sie nicht mehr zu entfliehen vermögen. Andre werden durch die F. geradezu gelähmt (Schrecklähmung oder Kataplexie, s. d.). Das »Sichtotstellen« mancher Käfer dürfte hierher gehören. Weitere Erscheinungen an der Willkür entzogenen Organen sind: das Schwitzen (Ausbrechen des Angstschweißes); die Zusammenziehung der Blasenmuskeln, die zu Harndrang und sogar zu unwillkürlicher Harnentleerung führen kann; Beschleunigung der Darmbewegung, durch welche Durchfall entsteht; Pupillenerweiterung, die bei furchtsamen Tieren oft schon bei leisen Geräuschen eintritt; Gänsehaut und Sträuben der Haare, beide auf einer Zusammenziehung der glatten Muskeln der Haut beruhend. Meist beschleunigt sich, zuweilen aber stockt die Atmung infolge eines Schreckens: ein Kind z. B. fällt hin, beginnt aber erst eine Zeitlang nachher heftig zu schreien; hier versagte anfangs der Atem (vox faucibus haesit). Die F. soll sogar plötzlichen Tod herbeiführen können. Daß Krankheiten, besonders nervöse, durch F. erzeugt werden können, ist zweifellos. Auch verlieren Menschen infolge der F. die Sprache dauernd, andre gewinnen die früher verlorne durch einen Schreck plötzlich wieder. Ob die Erzählungen vom plötzlichen Ergrauen der Haare auf wirklichen Tatsachen beruhen, muß dahin gestellt bleiben. Ganz unter dem Bilde der F. verlaufen die nächtlichen Anfälle erregbarer Kinder (pavor nocturnus): das Kind erwacht einige Stunden nach dem Einschlafen mit heftigem Geschrei und Zittern, der Gesichtsausdruck ist schreckhaft, die Atmung und der Herzschlag ist beschleunigt, das Bewußtsein geschwunden, die Sprache verwirrt; es gelingt meist erst nach mehreren Minuten, das Kind zu erwecken und zu beruhigen. Vgl. Mosso, Die F. (deutsch von Finger, Leipz. 1889).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 214.
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