Tonleiter

[1165] Tonleiter. (Musik)

Eine Folge von acht stufenweise auf- oder absteigenden diatonischen Tönen von der Tonica bis zu ihrer Octave. Sie ist nach Beschaffenheit der Dur oder Molltonart von zweyerley Art. In der Durtonart folgen die Töne sowol auf- als absteigend wie in der diatonischen Octave von C bis c: und in der Molltonart absteigend, wie von a bis A; aufsteigend aber werden die kleine Sexte und Septime des Grundtones durch ein Erhöhungszeichen in die große verwandelt, die Septime, der Nothwendigkeit des Subsemitoniums wegen1, und die Sexte, um die unharmonische Fortschreitung der übermäßigen Secunde von f in gis zu vermeiden. Beyde Arten der Tonleiter bestehen aus einer diatonischen Octave von fünf ganzen und zwey halben Tönen2, und sind durch die verschiedene Lage der beyden halben Töne sowol an Gesang als an Ausdruk sehr von einander unterschieden. Da sie in unserm System in alle Töne versezt werden können, so sind so viele Tonleitern, als es versezte Tonarten giebt, nämlich zwölf Dur- und zwölf Molltonleitern, wovon jede Gattung zwar ihre bestimmten Intervalle vom Grundton hat, die aber in jeder versezten Tonart, den Verhältnissen nach, mehr oder weniger an Reinigkeit von einander unterschieden, und daher dem Ausdruk der Tonart selbst, in jedem versezten Ton eine veränderte Schattirung geben3. In der untenstehenden Tabelle werden die Verhältnisse jeder Tonleiter angezeiget werden.

Bey Verfertigung eines Stüks ist die Tonleiter des Haupttones und der Tonart, worin es gesezt werden soll, das Hauptaugenmerk des Tonsezers, weil er, wenn das Gehör von dem Hauptton eingenommen werden soll4, keine andere Töne hören lassen kann, als die in der Tonleiter desselben vorkommen. Die Töne dieser Tonleiter müssen daher in dem ganzen Stük herrschend seyn, fürnemlich bey dem Anfang und gegen das Ende desselben. In der Mitte ist ihm vergönnt, der Mannigfaltigkeit wegen hin und wieder einen Ton der Tonleiter zu verlezen, und dadurch in Nebentöne auszuweichen, deren Tonleiter aber von der Tonleiter des Haupttones nur um einen Ton verschieden seyn darf5, damit er leicht von ihnen zu der Haupttonleiter wieder zurükkehren kann, und diese nicht aus dem Gefühl gebracht werde. Dadurch wird Einheit und Mannigfaltigkeit in den Tönen des Stüks gebracht.

Ehedem hatte jeder Ton in der diatonischen Octave von C bis c seine besondere Tonleiter, die, weil die sogenannten Semitonien Cis, Dis, Fis, Gis in dem damaligen System fehlten, nicht in andere Töne versezt werden konnten. Daraus entstanden sechs bis sieben durch ihre Tonleitern verschiedene Tonarten, die insgemein Kirchentöne genennet werden6, und die durch die in jeder Tonleiter verschiedene Lage der beyden halben Töne E-F und H-c von verschiedenem und lebhaften Ausdruk waren, wie die in diesen Tonarten uns übrig gebliebenen Kirchengesänge zeugen. Die Einführung der erwähnten Semitonien in unserm System hat den Vortheil zuwege gebracht, daß die Tonleitern in alle Töne versezt, und jeder Ton zur Tonica von sechs Tonleitern, und wenigstens eben so vielen Tonarten gemacht werden kann; man hat sich aber dieses Vortheils begeben, und außer den alten Choralgesängen keine andere als die jonische und aeolische Tonart beybehalten, und dadurch die heutige Musik auf die C dur und A moll Tonart eingeschränkt, die unstreitig die vollkommensten, aber zu allen und jeden Ausdruk fürnämlich in der Kirche nicht hinlänglich oder schiklich sind.

Die Vollkommenheit dieser zwey Tonarten liegt in der faßlichen und leicht zu singenden Fortschreitung ihrer Tonleitern. Die Töne derselben folgen so natürlich auf einander, und haben so viel Beziehung auf den Grundton, daß die übrigen alten Tonarten, denen diese Vollkommenheit ihrer Tonleitern [1165] fehlet, dagegen nicht in Vergleichung zu ziehen sind. Die Molltonleiter hat zwar im Aufsteigen durch die große Sexte und Septime des Grundtones abgeändert werden müssen; aber auch dieses ist zur Vollkommenheit der weichen Tonart gediehen. Ueberdies sind die Töne beyder Tonleitern von der Beschaffenheit, daß aus ihnen zu jedem Gesange der harten oder der weichen Tonart die vollkommenste harmonische Begleitung zusammengesezt werden kann, welches in den übrigen alten Tonarten wegen der Unvollkommenheit ihrer Tonleitern auch nicht angeht.

Wäre das chromatische und enharmonische Geschlecht in unser System eingeführet oder einzuführen möglich, so würden wir auch chromatische und enharmonische Tonleitern haben. So lange aber alle Töne unseres Systems blos zur Vollkommenheit des diatonischen Geschlechts da sind, und alles was würklich chromatisch und enharmonisch in unserer Musik vorkommen kann, blos aus einzelnen Fortschreitungen der Melodie oder Rükungen der Harmonie besteht, wodurch noch lange kein eigenes Klanggeschlecht hervorgebracht wird, sind alle die verschiedenen Tonleitern von 17 bis 29 und mehreren Tönen, die so unrichtig mit diesen Namen belegt, und oft so weitläuftig zergliedert und unterabgetheilt werden, blos chromatisch und enharmonisch in der Einbildung, weil sie im Grunde aus mehreren diatonischen Tonleitern zusammengeschoben, und übrigens an und für sich von gar keinem Nuzen und Gebrauch in unserer Musik sind.7

Wir zeigen demnach nur die vier und zwanzig diatonische Tonleitern nach den zwölf harten und den zwölf weichen Tonarten, mit den Verhältnissen ihrer Intervallen von dem Grundton, an, da es unstreitig ist, daß die Verschiedenheit der Reinigkeit der Intervallen in jeder Tonleiter auch eine Verschiedenheit in dem Ausdruk bewürken müsse, daß folglich ein Ton vor dem andern, der zur Tonica eines Stüks gemacht wird, mit Rüksicht auf den besondern Ausdruk der Moll-oder Durtonart, zu diesem oder jenem Ausdruk am schiklichsten seyn müsse. Wir beziehen uns auf das, was hierüber im Artikel Ton gesagt worden.

Tonleitern der zwölf Töne nach der harten Tonart.8

Tonleiter

Tonleitern der zwölf Töne nach der weichen Tonart.9

Tonleiter
Tonleiter
1[1166] S. Subsemitonium.
2S. Diatonisch.
3S. Ton.
4S. Hauptton.
5S. Ausweichung.
6S. Tonart der Alten.
7S. Chromatisch, Enharmonisch, Diatonisch, System.
8Man hat in dieser Tabelle, um das Verhältniß des A von C desto leichter zu übersehen, weder 96/161 noch 161/270 sondern an deren statt 3/5 gesezt, da der Unterschied derselben nur ein halbes Comma beyträgt.
9Da die Molltonleiter im Aussteigen außer der Terz, und der Sexte und Septime im Absteigen die nämlichen Töne und Intervallen der Durtonleiter hat, so hat man der Kürze und Deutlichkeit wegen, nur die Verhältnisse der kleinen Terz, Sexte und Septime angezeiget.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1165-1167.
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