Umriß

[1200] Umriß. (Zeichnende Künste)

Die äußersten Linien, wodurch die Schranken, folglich die Form eines Körpers bestimmt wird. Vorzüglich versteht man dadurch die äußersten Linien bey Zeichnung der menschlichen Gestalt; die den wichtigsten Theil der Zeichnung ausmachen. Jede besondere Ansicht des Körpers, läßt einen besondern Umriß sehen, und in jeder möglichen Ansicht verändert er sich nach der Stellung oder Bewegung der [1200] Gliedmaßen. Also kann eine Figur nach unendlich viel verschiedenen Umrissen gezeichnet werden.

Bey jeder Zeichnung des Umrisses ist auf zwey wesentliche Punkte zu sehen, auf Richtigkeit und auf Schönheit. Die Richtigkeit des Umrisses entsteht aus Beobachtung der wahren Verhältnisse, und der wahren Wendung einzeler Theile. Nämlich, der ganze Umriß besteht aus unzähligen krummen, aus- und eingebogenen, mehr oder weniger gekrümmeten und immer in einander fließenden Linien. Die Erhöhungen und Vertiefungen dieser Linien entstehen aus den unter der Haut liegenden Muskeln und Knochen. Jene sind nicht nur in jedem einzelen Körper, sondern bey jeder Stellung und Bewegung, so wol in Verhältniß, als in Form anders. Es giebt aber auch allgemeine Verhältnisse und Formen, die ganzen Gattungen eigen sind. Menschen von gewisser Lebensart, zeigen Umrisse, die ihrer Gattung eigen sind. Ein Kämpfer, der sich täglich in gewaltsamen Bewegungen übet, bekommt an allen Theilen andere Umrisse, als ein weichlicher und meist stillsizender Mensch. Dergleichen Veränderungen entstehen auch durch das Temperament und das Alter. Man staunet bey einigem Nachdenken über die Schwierigkeiten in jedem Falle die Richtigkeit der Umrisse zu treffen.

Ohne sehr gute Kenntniß der Anatomie, ohne ausgebreitete Beobachtung der Bewegungen an nakenden Körpern von allerley Alter und Temperament, ist es unmöglich einige Fertigkeit in Zeichnung der Umrisse zu erhalten. Und doch wird die ausgebreiteste Kenntniß hierin für tausend Fälle noch nicht hinreichen, wenn man nicht die Natur selbst vor Augen hat. Es ist nöthig die Schwierigkeit der Sache ins Licht zu sezen, damit besonders junge Künstler die dringende Nothwendigkeit des Studiums und der Uebung in ihrer Kraft empfinden. Einem guten Zeichner des Nakenden müssen die Muskeln des menschlichen Körpers so bekannt seyn, als die Buchstaben des Alphabets dem, der Wörter zu schreiben hat.

Das allgemeine Kleid, oder die Haut, die den Körper bedekt, giebt eigentlich der menschlichen Figur die Schönheit, in so fern sie von der Richtigkeit der Verhältnisse unabhängend ist. Sie mildert alles Harte und Steiffe, bringt alle Linien des Umrisses zur Einheit der Form, und giebt ihm die liebliche Harmonie, und das sanfte Wesen, wodurch die menschliche Gestalt, auch blos in Absicht auf den Umriß allein, die höchste Schönheit der Form erhält.

Die Einheit der Linie des ganzen Umrisses scheinet die erste nothwendige Eigenschaft der Schönheit des Umrisses zu seyn. Eine einzige unabgebrochene Linie muß die ganze Figur umschließen. In dieser Linie muß nichts gerades seyn; alles muß sich Wellenförmig bald mehr, bald weniger runden; aber mit so sanften Abwechslungen, daß man vom ausgebogenen auf das eingebogene, von dem mehrgekrümten, auf das gerade laufende, durch unmerkliche Stufen kommt, so daß das Aug um den ganzen Umriß sanft fortglitschen könne.

Einer der wichtigsten Punkte der Schönheit liegt in der abwechselnden Stärke und Schwäche, in der Kühnheit, womit einige, und der bescheidenen Vorsichtigkeit, womit andere Theile gleichsam ausgesprochen werden. Im Umriß kann nicht einerley Ton herrschen, wenn es ihm nicht ganz an Kraft fehlen soll. Wer den fürtreflichsten Umriß, wie ihn Raphael gemacht hätte, mit einer dünnen, überall gleichen Linie, nachzeichnen würde, benähme ihm dadurch fast alle Kraft; er würde nur den Schatten eines schönen Umrisses, wiewol in der größten Richtigkeit der Verhältnisse darstellen. So wie die Wörter der Rede, die Redesäze und ganze Perioden ihre verschiedenen Accente, Hebung und Abfall der Stimme haben müssen, um wolklingend zu seyn, so muß auch der Umriß, Ton und Stimm abändern. Einiges muß sich durch Kühnheit, anders durch das Sanfte auszeichnen.

Aber es wäre Tollheit, eine Sache, die man blos zu fühlen, nie aber zu erkennen, im Stand ist, und wozu die Sprache keine Worte hat, ausführlich beschreiben wollen. Der Künstler übe sein Aug an der Natur, an den besten Antiken, an den Werken des Raphaels, M. Angelo und andrer großer Männer, und lerne zuerst fühlen, denn suche er das, was er fühlt, auszudrüken.

Neue Schwierigkeiten zeigen sich in Absicht auf den Umriß, wenn der Zeichner statt der Reißfeder den Pensel führet. Da muß er einigermaaßen zaubern können, um uns Sachen sehen zu lassen, die nicht da sind. Denn wir sehen Begränzung, ohne die Gränzen zu sehen. Aber ich enthalte mich von einer. Sache zu sprechen, die für die Meister der [1201] Kunst selbst, zum Theil noch ein Geheimnis ist. Einige Lehren hierüber giebt Leonh. da Vinci in dem 337 und 338 Capitel seiner Beobachtungen und Anmerkungen. Plinius merkt an, daß auch von den alten Mahlern wenige in diesem Stüke der Kunst glüklich gewesen. Extrema corporum facere et desinentis picturæ modum includere, rarum in successu artis invenitur. Ambire non debet se extremitas ipsa et sic desinere, ut promittat alia post se, ostendatque etiam quæ occultat. Hanc Parrhasio gloriam concessere Antigonus et Xenocrates, qui de pictura scripserunt.1

1Plin. L. XXXV. c. 10.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1200-1202.
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