Verhältnisse (Zeichnende Künste)

[1216] Verhältnisse. (Zeichnende Künste)

Es wäre ein völlig ungereimtes Unternehmen, allgemeine und doch bestimmte Regeln für die Verhältnisse der Theile der schönen Form zu suchen, da unendlich vielerley Formen bey ganz verschiedenen Verhältnissen schön seyn können, und überhaupt die Schönheit, folglich auch die Verhältnisse der Form, von der Natur der Sache, der die Form zugehöret, abhängt. Eine Schlange ist mit ganz andern Verhältnissen schön, als ein vierfüßiges Thier, und dieses als ein Vogel. In der Natur giebt es keine todte Formen, dergleichen die Figuren der Geometrie sind: die Formen natürlicher Körper sind nur wie Kleider anzusehen, die einem schon vorhandenen und seiner Bestimmung gemäß eingerichteten Körper gut angepaßt sind. Bey der Form also muß nothwendig auf die Sache, der sie als ein Kleid zugehöret, ihre Natur und ihre Bestimmung gesehen und daher die Verhältnisse der Theile der Form bestimmt werden. Ohne dieses wär in den zeichnenden Künsten nichts gewisses mehr. Wer ein Trinkgeschirr macht, muß nothwendig dabey auf den Gebrauch desselben sehen, daraus das allgemeine der Form bestimmen und denn ihr die Schönheit und den Theilen die Verhältnisse geben, die sich zu jener durch das Wesen bestimmten Form am besten schiken. Davon aber läßt sich außer den allgemeinen Grundregeln, die in dem vorhergehenden Artikel berührt worden, nichts näher bestimmtes sagen.

Wo aber die zeichnenden Künste die Gegenstände nicht erfinden, sondern aus der Natur nachahmen, da bleibt ihnen auch die Erfindung der Form nicht frey; sie müssen sie nehmen, wie die Natur sie gemacht hat. Da diese gleichwol bey Formen von einerley Art, die Verhältnisse der Theile verschiedentlich abändert und einer Form mehr Schönheit giebt, als andern von ihrer Art, so kommt es darauf an, daß der Zeichner das beste für jeden Fall zu wählen wisse. Wir wollen hier, um uns in der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Dinge nicht zu verirren, die Betrachtung der Verhältnisse blos auf die wichtigste aller Formen, der menschlichen Figur einschränken.

Man schreibet dem Zeichner insgemein genau bestimmte Verhältnisse vor, nach denen er jeden Theil des menschlichen Körpers zeichnen soll, um ihn schön zu machen. Aber man bedenkt dabey nicht genug, daß selbst für die menschliche Gestalt kein absolutes Maaß der Schönheit gesezt sey. Wie die weibliche Gestalt eine andre Schönheit hat, als die männliche, die Kindheit eine andere, als die männlichen Jahre, so erfodert auch jeder Charakter des Menschen andere Schönheit, folglich andere Verhältnisse. So mancherley Charaktere zu schildern sind, so vielerley Verhältnisse müssen auch beobachtet werden. Die griechischen Bildhauer, die das Gefühl des Schönen in einem hohen Grad besaßen, bildeten ihre Gottheiten nicht nach einerley Verhältnissen; Jupiter, Apollo, Herkules und andre Götter, bekamen jeder andere, nach dem ihnen zukommenden Charakter, und so auch die Göttinnen.

Es fehlet unendlich viel daran, daß wir für jede Art des Charakters die genaue Form des Körpers sollten bestimmen können, die sich am besten für ihn schiket. Also besizen wir auch keine bestimmte Wissenschaft der Verhältnisse, die man dem Zeichner vorschreiben könnte.

Da die Charaktere der Menschen aus so mannigfaltigen Vermischungen ihrer Eigenschaften bestehen, daß es unmöglich ist alle zu bestimmen, so ist es auch nicht möglich die Verhältnisse der verschiedenen schönen Formen des Körpers anzugeben. Doch scheinet es, daß die Griechen darin das meiste gethan[1216] haben. Sie legten ihren meisten Gottheiten bestimmte Charaktere bey, deren jeder in seiner Art das höchste war, was man etwa an Menschen beobachten konnte; ihre Bildhauer befließen sich in dem Bild jeder Gottheit ihren Charakter auszudrüken, und dieses nöthigte sie die menschliche Gestalt auf das genaueste zu betrachten, damit sie entdeken konnten, wie die Natur die vorzüglichsten Charaktere der Menschen in der Gestalt des Körpers sichtbar gemacht habe. Durch dieses Studium entdekten sie, wie die Verhältnisse seyn müßten, wenn die Gestalt eine Venus, oder eine Juno nach ihrem Charakter abbilden sollte. Die Gestalt der Königin der Götter mußte bey der weiblichen Schönheit auch Hoheit und Ernst; das Bild der Göttin der Liebe, alle Reizungen zur Wollust darstellen.

Wir können also nichts besseres thun, da unsre Begriffe von menschlicher Vollkommenheit überhaupt betrachtet, eben die sind, die die Griechen gehabt haben, als die Verhältnisse annehmen, die sie in der Natur durch vieles Forschen entdekt haben. Es ist ein großer Verlust für die zeichnenden Künste, daß die Werke der Griechen, die über die Verhältnisse geschrieben haben, verlohren gegangen. Philostratus führt in der Vorrede zu der Beschreibung seiner Bilder einige davon an. Doch ist dieser Verlust dadurch in etwas ersezt, daß noch verschiedene schöne Werke der bildenden Künste übrig geblieben sind, woraus man die Verhältnisse, denen sie folgten, abmessen kann. Man hat die besten Antiken vielfältig abgezeichnet, und nach allen Verhältnissen ausgemessen. Aber zum Studium der besten Verhältnisse fehlet es nun noch an einem Werke, darin die Charaktere, die die Griechen in ihren Bildern haben sichtbar machen wollen, genau beschrieben wären. Ein in den Schriften der Alten durchaus erfahrner Philosoph, müßte uns den Charakter des Jupiters, Mars und aller Götter, Göttinnen und Helden, deren Bilder wir haben, beschreiben. Diese gegen die vorzüglichsten Bilder gehalten, würden uns ziemlich bestimmt sehen lassen, durch was für Verhältnisse jeder Charakter am sichtbarsten ausgedrükt wird.

Es wäre eine geringe Mühe diesen Artikel mit verschiedenen Tabellen von würklich ausgemessenen Verhältnissen der Theile des menschlichen Körpers zu verlängern; wir halten es aber dem Zwek dieses Werks nicht gemäß, uns in diese Weitläuftigkeiten einzulassen, zumal, da der deutsche Künstler in des Hrn. von Hagedorn Betrachtungen über die Mahlerey, das meiste, was hier anzuführen wäre, bereits finden kann.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1216-1217.
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