Der Mann mit der eisernen Maske

[53] Der Mann mit der eisernen Maske, ein unbekanntes Opfer des ehemahligen Französischen Hofdespotismus aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. Nach der Eroberung der Bastille erinnerte man sich wieder an die eiserne Maske, von welcher Voltaire so viel Wunderbares erzählt hatte. Man suchte in den Listen der Gefangenen nach, fand aber nur die unbefriedigende Nachricht, daß im Jahre 1703 ein unbekannter Gefangener in der Bastille gestorben sei, welcher sich seit 1698 daselbst befunden habe und der berühmte Mann mit der eisernen Maske gewesen sei. Da man aus andern sichern Nachrichten mit Gewißheit annehmen konnte, daß dieser Mann bloß in den letzten Jahren seines Lebens in der Bastille gesessen hatte, und vorher in einem Kerker auf der Insel. St. Marguerite und zu Pignerol in Verwahrung gewesen war; so hatte man daraus geschlossen, daß er vielleicht von seiner Kindheit an der Freiheit beraubt gewesen und zur Bewahrung irgend eines wichtigen Staatsgeheimnisses, das auf seiner Person beruhte, zur beständigen Verhüllung des Gesichts mit eine Maske verurtheilt worden sei. Es hatten sich hierüber mehrere Sagen verbreitet; und unter diesen fand eine den meisten Glauben, nach welcher dieser Mann ein Zwillingsbruder Ludwigs XIV. gewesen sein sollte, den die Königin Anna bei Seite geschafft hätte, um Streitigkeiten über die Erstgeburt und künftigen bürgerlichen [53] Kriegen auszuweichen. Allein wenn man auch zugeben wollte, daß die Geburt von Zwillingsbrüdern habe verborgen gehalten werden können: so wird man schwerlich die Thatsache damit zu vereinigen im Stande sein, daß dieser Gefangene, seinen Aeußerungen nach zu urtheilen, ein Mann von vielen Einsichten war, der Europa durchreist zu haben schien und die Politik der Höfe kannte; von einem vom Anfange des Lebens an zum Kerker verdammten Menschen ließ sich doch diese Kenntniß gewiß nicht erwarten. Es ist daher wahrscheinlicher, daß dieser Mann entweder ein Staatsgeheimniß verrathen oder wider die damahlige Allgewalt des Französischen Cabinets an auswärtigen Höfen einen gefährlichen Anschlag gemacht hatte. Man giebt einen Minister des Herzogs von Mantua für den Erfinder eines solchen Anschlags aus; und da dieser nach einer Sendung an den Turiner Hof auf einmahl verschwand, so könnte sich wohl der Französische Minister an diesem Hofe seiner bemächtigt und ihm Ludwig XIV. als Staatsverbrecher eingeliefert haben. Um die an einem auswärtigen Unterthan begangene Niederträchtigkeit zu verbergen, mußte freilich alles vermieden werden, was darüber einige Aufklärung hätte geben können; und daher war es nicht zu verwundern, daß dieser Unglückliche gezwungen wurde, stets eine Maske vor dem Gesichte zu tragen. Andere behaupten, dieser Mann sei ein Sohn Mazarins und der Anna von Oestreich gewesen. Es fehlt übrigens auch nicht an solchen, welche die ganze Erzählung für erdichtet halten und die Existenz des Mannes mit der eisernen Maske geradezu läugnen.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 53-54.
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