Heine

[259] Heine, Heinrich, geb. 1800, aus einer reichen jüd. Kaufmannsfamilie zu Düsseldorf, studierte seit 1819 zu Bonn, Berlin und Göttingen, ließ sich 1825 taufen, lebte abwechselnd zu Hamburg, Berlin u. München, seit 1830 dauernd zu Paris, wo er Aufsätze in die Revue des deux mondes lieferte, 1835 als Haupt des jungen Deutschland von den Maßregeln des deutschen Bundestages gegen dasselbe getroffen wurde, dagegen von 1836–48 ein ansehnliches Jahrgeld von der französ. Regierung bezog und gegenwärtig durch die Rückenmarksdarre langsam abstirbt. H. ist entschieden das größte Dichtergenie, das seit Göthe aufgetreten, aber durch Mangel an Religion und Sittlichkeit zugleich der lebendigste Ausdruck aller Widersprüche, in denen sich unser Jahrh. bis vor kurzem bewegte u. vielfach noch bewegt. Neben der tiefsten dichterischen Anschauung der ideenarmste Saint-Simonismus u. eine wahrhaft satanische Freude an der Unlust u. am Häßlichen; neben einer zauberhaften [259] Macht, alle Saiten des menschl. Herzens erklingen zu machen, der empörendste Hohn auf alles, was die Menschheit hoch und heilig hält und was nicht zu H.s Irreligion der Freude und des Genusses paßt; neben dem treffendsten geistvollsten Witze die gemeinsten Zoten; der geborne Dichter und der jüd. Faun verschmelzen sich in H. zu einem ebenso anziehenden als abstoßenden Ganzen, u. den zunehmenden Verfall seiner Dichternatur hat er, sonst ein Meister der Form, auch in der wachsenden Nachlässigkeit hinsichtlich der Form seiner Dichtungen offenbart. H. ging von der romantischen Schule aus, trat schon vor der Revolution von 1830 als Bewegungsdichter auf (Reisebilder, Hamburg 1826 ff., 4. Aufl. 1850 in 4 B.) und schwang sich rasch zum Herrscher der Poesie empor, indem er als Lyriker die rechte Erkenntniß vom Verhältnisse des Inhalts zur Form gab, die Poesie zur Einfachheit und Unmittelbarkeit des Volksliedes zurückführte u. einzelne lyrische Gedichte (vor allem im »Buch der Lieder«, Hamburg 1827, 10. Aufl. 1852), Balladen (die Wallfahrt nach Kevlaar, die Grenadiere) u. Hymnen (Friede) lieferte, wie kaum Göthe sie geschaffen. Selbst in den berüchtigten »Neuen Gedichten« (1844) glänzen aus dem Schmutze heraus noch Perlen u. offenbart sich »das ihm eigene liebevolle Erfassen u. Beleben der Natur«. Hatte er gegen den sittlich hoch über ihm stehenden Börne sich schamlos benommen, so lieferte er im »Atta Troll«, einem witzigen Heldengedicht in 24 Kapiteln, das in der Zeitung für die elegante Welt 1843 zuerst abgedruckt wurde, eine beißende Persiflage auf alle Richtungen, Bestrebungen und bedeutenden Persönlichkeiten der Literatur. Der »Romanzero« sammt Nachwort (1851) war geeignet, alle voreilig aufgetauchten Gerüchte über H.s Bekehrung zu widerlegen. H. ist zu sehr Lyriker, um Epiker oder Dramatiker sein zu können; seine Dramen (Almansor, Ratcliff u.a.) sind bei aller Originalität der Auffassung, Kunst der Behandlung u. Beweglichkeit »ohne diejenige Consequenz und Stetigkeit in der Handlung, die dem Drama seine eigenthümliche Bedeutung geben muß«. Außer einigen für die Geschichte der neuern Literatur nicht unwichtigen Schriften lieferte H. unter anderm in Prosa die franz. Zustände und den Salon, ganz gemacht, um beizuhelfen, daß die Nachwelt den Dichter weit herber verurtheilen wird, als dies bei G. A. Bürger (s. d.) der Fall ist.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 259-260.
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