Schopenhauer [2]

[116] Schopenhauer, Arthur, ein in mehrfacher Hinsicht merkwürdiger Philosoph, geb. 1788 zu Danzig, ein Verehrer Kants, aber gegen die Mängel u. Lücken des Kant'schen Systems keineswegs blind, dabei ein Gegner der gesammten Nachkant'schen wie der speculativen Philosophie überhaupt, trat 1820 zu Berlin als Docent der Philosophie auf, vermochte jedoch neben Hegel nicht emporzukommen und lebt seit vielen Jahren ohne Anstellung zu Frankfurt a. M. Unter seinen Schriften bekamen »Die Welt als Wille und Vorstellung« 1844 u. »über die 4fache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« 1847 die 2. Aufl., füllt die jüngste »Parerga und Paralipomena« (Berl. 1851) 2 Bde. S. schuf kein gegliedertes System, seine Thätigkeit war vorherrschend eine kritische und verneinende, seine hervorstechendste Eigenthümlichkeit ein scharfer Verstand im Bunde mit einer rücksichtslosen Sprache voll »göttlicher Grobheit.« Die Welt oder die Wirklichkeit ist die Vorstellung, von der er ausgeht; nichts ist in der Erkenntniß, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre, allein die Sinne liefern nimmermehr eine Außenwelt, sondern nur dumpfe Empfindungen u. Affectionen unseres Selbst. Der Verstand wird zum »Baumeister der Welt« durch das Causalitätsgesetz, das einzige u. allem Bewußtsein vorangehende Denkgesetz; er faßt nämlich die Empfindungen und Affectionen unseres Selbst als Wirkungen auf, sucht für jede Wirkung die Ursache und verlegt dieselbe in den Raum od. nach Außen. In jeder Vorstellung ist das erkennende Subject und das erkannte Object zugleich enthalten; zwischen dem Verstande des Wurmes und des Menschen besteht lediglich ein gradueller Unterschied, indem eben die Vorstellung der Welt im Menschen den höchsten Grad des Reichthumes u. der Vollkommenheit erreicht und indem er alle Objecte der Welt zu einer Einheit von Ursachen und Wirkungen zu verbinden trachtet, wodurch Wissenschaft u. Kunst entstehen. Die Erkenntniß des Verstandes ist eine intuitive u. an den Moment gebundene, ihn ergänzt die Vernunft als das Vermögen Begriffe zu bilden u. dieselben im Gedächtniß festzuhalten. Durch Begriffsbildung und Gedächtniß allein unterscheiden sich Thier und Mensch; von höherer Vernunfterkenntniß, von den sog. Ideen will S. nichts wissen; wenn man von Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, von den Ideen des Wahren, Guten u. Schönen redet, wird ihm, als müßte er in einen Luftballon steigen. Die Philosophie soll gar nie fragen, woher und wozu die Welt sei, sondern lediglich was sie sei und Wissenschaft und Kunst zu einem verklärenden Spiegel derselben gestalten. Die Verbindung von Ursache und Wirkung in der Welt wird stufenweise immer geheimnißvoller, so daß der oberflächliche Beobachter am Ende nur noch Wirkungen sieht – die Lösung des Geheimnisses aber liegt im Willen. Der Wille ist im Baum und Thier das Ursprüngliche u. Schöpferische, wodurch alle Organe geschaffen und beherrscht werden, der Wille oder Charakter ist der eigentliche wahre Inhalt unseres Selbstbewußtseins, alles Streben und Wünschen, Fürchten und Hoffen, Lieben u. Hassen ist Wille, in ihm ruht unser wahres inneres oder ewiges Wesen, keineswegs jedoch in einer sog. Seele. Der Wille zum Leben aber ist der wahre Ausdruck für das Wesen der Welt u. im Insekt so vollkommen vorhanden wie im Menschen; er liegt allen möglichen Handlungen zu Grunde, der Leib ist seine Verkörperung, Verstand und Vernunft sind nur seine Werkzeuge u. nur zeitliche, ja fast nur körperliche Vorzüge des Menschen. Die Erregung des Willens hat übrigens Grade, vom Willen des Insektes unterscheidet sich der menschliche Wille, indem letzterer Motive hat d.h. weiß, was er will. Jeder einzelne Willensact hat einen Zweck, das gesammte Wollen od. die Welt hat keinen Zweck, kein Ziel und kein Ende. Je nachdem der an sich grundlose, blinde Wille der Erkenntniß bedarf, hat diese Stufen und Grade vom Polypen bis hinauf zum genialen Künstler und je mehr die Erkenntniß wächst, desto mehr trennt sich der Wille von ihr, im Menschen [116] tritt die Welt als Vorstellung von der Welt als Object des Willens auseinander, beim wahren Künstler ist die Sonderung vollkommen, er ist glücklich im ästhetischen Genuß. Allein ästhetische Genüsse sind selten und vorübergehend, auch der Künstler bleibt gefesselt einerseits an die unerklärbare Liebe zum Leben, anderseits an das rastlose Streben und den endlosen Kampf und Schmerz ohne Zweck und Ziel, der das Leben ausmacht. Daß diese Welt unter allen möglichen die schlechteste sei, hat S. oft genug ausgesprochen, daß die höchste Tugend im Selbstmord aus philosophischer Erkenntniß bestehe, haben andere ihm als eine einfache Folgerung aus seinen Ansichten längst gesagt, zumal denselben gemäß Geburt und Tod nur für das Bewußtsein u. keineswegs für den Willen vorhanden sind und der Tod eben ein Schlaf ist, in welchem man seine Individualität vergißt. Das Verhältniß der S. schen Philosophie der Verzweiflung, die weder von einem persönlichen noch unpersönlichen Gotte mehr weiß, zur Religion und Theologie bedarf wohl keiner weitern Auseinandersetzung; in seinen alten Tagen wird ihm endlich in dieser »Spottexistenz des Lebens« die Freude, mehr u. mehr Bewunderer und leider auch Gesinnungsgenossen zu finden.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 116-117.
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