Elastizitätsgrenze [1]

[386] Elastizitätsgrenze für Zug, Druck, Schub u.s.w. wurden früher diejenigen Beanspruchungen pro Flächeneinheit genannt, bei deren Ueberschreiten bleibende Formänderungen eintreten, während die Körper nach geringeren Beanspruchungen wieder vollständig in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren füllten. Vereinzelt findet man solche Angaben auch in neuen Werken [16], S. 694. Diese Definition hat sich jedoch als unhaltbar erwiesen, eine so scharfe Grenze existiert nicht. Im Gegenteil haben Hodgkinson [2], S. 9, 14, und Clarke [4], S. 436, schon bei so kleinen Beanspruchungen bleibende Formänderungen erhalten, daß man sich fragen mußte, ob nicht jede Beanspruchung bleibende Formänderungen erzeugt. Bis zu welchen Grenzen die letzteren experimentell festgestellt werden können, hängt von der Genauigkeit der verwendeten Instrumente ab. Bauschinger vermochte mit einem Spiegelapparate, der Längenänderungen von Stäben bis auf 1/10000 mm zu messen gestattete, nur bei sehr hartem Stahl (Werkzeugstahl) anfangs keine bleibenden Formänderungen nachzuweisen [7], S. 14. Wertheim [1], S. 56, und Styffe [5], S. 30, haben die Unbestimmtheit der [386] Elastizitätsgrenze durch Festsetzungen über die Größe der zugelassenen bleibenden Formänderungen zu heben gesucht, und noch jetzt findet man mitunter derartige Festsetzungen [10], S. 217, 238; allein da die zulässigen Formänderungen auch bei gleichem Material von der Verwendung desselben und andern Umständen abhängen, so konnten solche Annahmen in der Technik keinen Eingang finden. Man pflegt jedoch unter Elastizitätsgrenze stets eine Beanspruchung zu verliehen, unter welcher die Spannungen keine für die angenommenen Zwecke in Betracht kommenden Formänderungen erzeugen.

Als Proportionalitätsgrenze für Zug, Druck, Schub u.s.w. bezeichnet man diejenige Beanspruchung pro Flächeneinheit, unterhalb welcher die Formänderungen als proportional diesen Beanspruchungen gelten können (bei konstanter Temperatur, vgl. Dehnung). Die Proportionalitätsgrenze bildet also zugleich die Grenze für die Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes (s. Elastizitätsgesetz), und da unterhalb ihr der Elastizitätsmodul (s.d.) annähernd konstant ist, so treffen daselbst die auf einen konstanten Elastizitätsmodul beruhenden Beziehungen der Elastizitätslehre (soweit deren sonstige Voraussetzungen erfüllt sind) am genauesten zu, während andernfalls Mittelwerte des Elastizitätsmoduls, umständlichere Ermittlungen oder Nachhilfe durch Erfahrungskoeffizienten u.s.w. notwendig werden können.

Fairbairn [5], S. 20, Morin [2], S. 2, Bauschinger [7], S. 35, u.a. faßten die Proportionalitätsgrenze als Elastizitätsgrenze auf, was sich damit begründen läßt, daß unterhalb der Proportionalitätsgrenze die bleibenden Formänderungen für die Konstruktionen des Ingenieurs genügend klein zu bleiben pflegen [18], S. 9. Materialien wie Gußeisen, Steine, Beton u.s.w., für die gegenüber gewissen oder allen Beanspruchungsarten keine Proportionalität besteht, besitzen hiernach gegenüber denselben auch keine Elastizitätsgrenze [7], S. 16. Auch die in dieser Beschränkung verstandene Elastizitätsgrenze ist eine sehr unsichere Größe. Sie kann z.B. bei Schweißeisen und Flußeisen schon für Proben desselben Materials erheblich verschieden ausfallen und durch mancherlei Einwirkungen, wie Härten, Strecken, Zerreißen, erhöht, durch andre wie Erwärmen, Erschüttern wieder herabgesetzt werden. Vgl. [7] und [9], §§ 25, 27, 29, 30 und Elastische Nachwirkung, über die Elastizitätsgrenze bei Wechsel von Zug und Druck s.a. Elastizitätsgrenze, ursprüngliche. Sodann gelten die experimentellen Ermittlungen nur für ruhende oder doch ganz allmählich anwachsende Belastung, während über die Elastizitätsgrenze gegenüber dynamischen Einwirkungen weder Theorie noch Erfahrung genügenden Aufschluß geben.

Bei Beurteilung von Zahlenangaben über die Elastizitätsgrenze ist nach obigem darauf zu achten, daß diese Bezeichnung in der Literatur nicht immer die gleiche Bedeutung hat. Auch wurden früher die Proportionalitätsgrenze und Streckgrenze (Stauchgrenze, Bieggrenze, s. Dehnung, Druckelastizität, Biegungselastizität) im allgemeinen nicht scharf unterschieden, so daß die Elastizitätsgrenze oft zwischen diesen beiden Stellen angesetzt ist, die allerdings bei manchen Materialien nahe beieinander liegen. In den Beschlüssen der Münchner und Dresdner Konferenzen für einheitliche Prüfungsmethoden von 1884 und 1886 (München 1887, S. 17) werden jedoch die Ausdrücke Elastizitätsgrenze und Proportionalitätsgrenze schon als gleichbedeutend verwendet. Wo Zweifel möglich sind, ist der letztere Namen vorzuziehen. Ueber die Elastizitätsgrenze gegen besondere Beanspruchungsarten s. Dehnung, Zugelastizität, Druckelastizität, Biegungselastizität, Schubelastizität, Torsionselastizität, wo auch weitere Literatur zu finden ist.

Man kann noch fragen, ob die für wichtige Baustoffe bei den üblichen Beanspruchungen bestehende Proportionalität zwischen Spannungen und elastischen Formänderungen auch nach Eintritt erheblicher bleibender Deformationen fortbesteht (nach Ueberschreiten der Streckgrenze oder Stauchgrenze, vgl. Dehnung, Druckelastizität). Bei vielen älteren Versuchen traf dies annähernd zu [3], S. CCLXXXIX, 21, [8], S. 441 (Gerstnersches Gesetz). Auch die umfallenden Versuche von Bauschinger mit Eisen und Stahl [7] ergaben verhältnismäßig geringe Aenderungen des Elastizitätsmoduls. Für ganze Konstruktionen aber führten die vom österreichischen Ingenieur- und Architektenverein angestellten Versuche mit zehn Fachwerkträgern und Blechträgern zu dem Schlusse: »Die Biegungselastizität der Träger bleibt während aller Belastungsstufen bis nahe zur Bruchgrenze unverändert erhalten, die elastischen Formänderungen sind auch nach Ueberschreiten der Elastizitäts- bezw. Proportionalitätsgrenze proportional der Belastung« [11], S. 84, 103, [12], S. 101.


Literatur: [1] Wertheim, Untersuchungen über die Elastizität, Poggendorffs Annalen, 2. Ergänzungsband, 1848, S. 1, 73, 99, 115, 481. – [2] Morin, Résistance des matériaux, Paris 1853 (zum Teil auch Allgemeine Bauzeitung 1853, S. 196). – [3] Navier, Résumé des leçons etc. avec des notes et des appendices de Saint-Venant, Paris 1864, p. XCIV, CCLXXI, 14 etc. – [4] v. Kaven, Kollektaneen u.s.w. über Schmiedeeisen, Stahl und Gußeisen, Zeitschr. d. Arch.-u. Ing.-Vereins zu Hannover 1868, S. 433. – [5] Styffe, Die Festigkeitseigenschaften von Eisen und Stahl, Weimar 1870. – [6] Zimmermann, Ueber die Bestimmung der Zähigkeit der Materialien und den Begriff der Elastizitätsgrenze, Zentralbl. d. Bauverwaltung 1886, S. 52. – [7] Bauschinger, Mitteilungen u.s.w., Heft 13 (Ueber die Veränderung der Elastizitätsgrenze und Fertigkeit des Eisens und Stahls durch Strecken und Quetschen, durch Erwärmen und Abkühlen und durch[387] oftmals wiederholte Beanspruchung), München 1886. – [8] Todhunter, A history of the theory of elasticity and the strength of materials, I, Cambridge 1886, S. 187, 442, 886 u.s.w. – [9] Weyrauch, Die Festigkeitseigenschaften und Methoden der Dimensionenberechnung von Eisen- und Stahlkonstruktionen, Leipzig 1889. – [10] Winkelmann, Handbuch der Physik, Bd. 1 (S. 214: Elastizität im allgemeinen), Breslau 1891. – [11] Brik, Fachwissenschaftliche Erörterungen zu dem Berichte des Brückenmaterialkomitees, Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1891, S. 73. – [12] Brik, Die Ergebnisse der Belastungsversuche an einem der Bahnstrecke entnommenen alten Eisenbrückenträger, Zeitschr. d. österr. Ing.- u. Arch.-Vereins 1896, S. 97, 109. – [13] Martens, Handbuch der Materialienkunde für den Maschinenbau, I, Berlin 1898, S. 20, 22, 32, 207. – [14] Mohr, Welche Umstände bedingen die Elastizitätsgrenze und den Bruch eines Materials, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ingenieure 1900, S. 1524, 1572. – [15] Mohr, Zur Festigkeitslehre, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ingenieure 1901, S. 740, 1035 (s.a. Voigt, S. 1033). – [16] Chwolson, Lehrbuch der Physik, I, Braunschweig 1902, S. 692. – [17] Bach, Elastizität und Fertigkeit, Berlin 1902, S. 3, 21, 50, 79. – [18] Tetmajer, Die angewandte Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Leipzig und Wien 1904, S. 2, 8.

Weyrauch.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 386-388.
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