Apollōnius von Tyrus

[623] Apollōnius von Tyrus, der Held eines lateinischen Romans, der, vermutlich im 3. Jahrh. n. Chr. im Stil des griechischen Abenteuerromans verfaßt, im Mittelalter viel gelesen und übersetzt wurde. A. besteht auf der Flucht vor den Nachstellungen des Königs Antiochus von Antiochien, dessen verbrecherisches Verhältnis zur eignen Tochter er entdeckt hat, mancherlei Schicksale, bis er sich die Hand einer Königstochter erwirbt und nach Antiochus' Tode zum König gewählt wird. Auf der Fahrt nach Antiochien wird er von seiner Gattin, der die Geburt einer Tochter scheinbar das Leben gekostet hat, getrennt; später verliert er auch die Tochter, die von Seeräubern an einen Kuppler verkauft wird, aber sie bewahrt ihre Keuschheit und wird schließlich ebenso wie die totgeglaubte Mutter mit A. glücklich wieder vereint. Die lateinische Originalfassung, die in den Handschriften vielfach verändert und um 1470 zum erstenmal gedruckt wurde, ist 1893 von Riese kritisch herausgegeben, 1836 von Bülow in seinem »Novellenbuch«, Bd. 4, übersetzt worden. Ein Auszug aus ihr ging in die »Gesta Romanorum« (s. d.), eine poetische Bearbeitung in das »Pantheon« des Gottfried von Viterbo über. Auf diesen drei lateinischen Versionen fußen die verschiedenen Bearbeitungen in den Landessprachen: Bruchstücke einer angelsächsischen Prosa aus dem 11. Jahrh. (hrsg. von Thorpe, Lond. 1834), eine spanische Romanze aus dem 13. Jahrh. (in Sanchez' »Colleccion de poesias castellanas«, Par. 1842), mehrere französische und italienische Fassungen in Vers und Prosa, ebenso verschiedene englische, unter ihnen aus dem 14. Jahrh. eine Nachdichtung Gowers in der »Confessio amantis«, die dann später in dem Shakespeare zugeschriebenen Drama »Perikles« benutzt wurde. In Deutschland gestaltete den Stoff im Anfang des 14. Jahrh. der Wiener Arzt Heinrich von Neustadt zu einem weitläufigen Ritterepos aus, indem er seine Umdichtung der lateinischen Prosa mit frei erfundenen Einlagen versah (im Auszug hrsg. von Strobl, Wien 1875). Eine vortreffliche mitteldeutsche Prosaübersetzung aus dem 15. Jahrh. (hrsg. von Schröder in den »Mitteilungen der deutschen Gesellschaft«, Bd. 5, Leipz. 1872) fand nicht die Verbreitung wie Heinrich Steinhöwels Bearbeitung, die sich zugleich den »Gesta Romanorum« und Gottfried von Viterbo anschließt und, 1461 verfaßt, seit 1471 mehrfach gedruckt wurde, zuletzt von Schröder a. a. O. Aus einer niederländischen Übertragung der »Gesta Romanorum« stammt das niederländische Volksbuch: »Van A. van Thyro« (zuerst Delft 1493), das von Penon in seinen »Bydragen tot de Geschiedenis der nederlandsche Letterkunde« (Groning. 1881) neu herausgegeben ist. Vgl. E. Klebs, Die Erzählung von A. v. T. (Berl. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 623.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: