Beweistheorie

[802] Beweistheorie nennt man den Inbegriff der Grundsätze, die in Ansehung der Stellung des Gerichts zu einem im Prozeß geführten Beweis oder bezüglich der sogen. Beweiswürdigung gelten. Der Beweis (s. d.) soll bei dem Richter die Überzeugung von der Wahrheit gewisser Tatsachen begründen. Von einer wirklichen Überzeugung des Gerichts kann aber nur dann gesprochen werden, wenn es sich diese ganz frei bilden darf. Eine B., die dem Gerichte dies gestattet, nennen wir eine Theorie der freien Beweiswürdigung; sie wird auch eine materielle B. genannt. Das frühere Prozeßrecht hatte aus Besorgnis vor richterlicher Willkür dem Richter die freie Überzeugung durch sogen. Beweisregeln, d. h. aus der Logik und Erfahrung geschöpfte und mit bindender Kraft ausgestattete Sätze über die Zulässigkeit, die Form und den Wert einer Beweisführung, abgeschnitten. Diese B., die dem Richter vorschrieb, unter welchen Umständen er gewisse Tatsachen für wahr halten dürfe und wann nicht, nannte man formelle B. oder Theorie der gesetzlichen Beweisregeln. Sie mußte in zahlreichen Fällen zu unrichtigen Ergebnissen führen, weil die allgemeinen Regeln leicht im einzelnen Fall unzutreffend sein konnten. Daher stellt sowohl die Zivilprozeßordnung (§ 286) als die Strafprozeßordnung (§ 260) den Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf. Immerhin sind einzelne gesetzliche Beweisregeln stehen geblieben (vgl. z. B. Zivilprozeßordnung, § 415–418, 445, 463; Strafprozeßordnung, § 61–63, 274). Die österreichische Zivilprozeßordnung geht (in § 272) ebenfalls von dem Grundsatze der freien Beweiswürdigung aus.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 802.
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