Kasuistik

[734] Kasuistik (lat.), früher eine Wissenschaft, die sich mit den Grundsätzen beschäftigte, nach welchen schwere Gewissensfälle, die sogen. Casus conscientiae, besonders wo eine Kollision der Pflichten eintritt, zur Beruhigung des Gewissens entschieden werden sollten. Die ersten Spuren der K., von Kant die »Dialektik des Gewissens« genannt, finden sich bei den Stoikern und den Talmudisten. Im Mittelalter teilte man die K., welche Zweifel und Bedenklichkeiten über den Glauben sowie die Frage nach der Pflichtmäßigkeit oder Pflichtwidrigkeit gewisser Handlungen zu lösen suchte, in drei Teile: eine philosophische K., die nach den Moralgesetzen der Vernunft unter streitenden Pflichten für die höchste und unerläßlichste entschied, eine theologische oder religiöse K., welche die kirchliche Sittenlehre als göttliches Gesetz zugrunde legte, und eine juristische K., die (im Gegensatz zur dogmatischen Methode) nach den im Staat gültigen Rechtsgesetzen entschied, indem sie die nach der verschiedenen Beschaffenheit der Umstände modifizierte Anwendung derselben zu ermitteln suchte. Die bekannteste der kasuistischen Schriften des Mittelalters ist die »Summa« des Raimundus de Pennaforte. Besonders galten die Jesuiten als eifrige Kasuisten; Escobar, Sanchez, Busembaum, in der Gegenwart Lehmkuhl u. a. stellten schwierige Kollisionsfälle auf und erteilten für sie spitzfindig ausgesonnene Ratschläge, die nicht immer mit dem Sittengesetz harmonierten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 734.
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