Dritte Familie: Ameisenfresser (Entomophaga)

[513] Die Familie der Ameisenfresser (Entomopha ga) ist noch artenarmer als die vorhergehende; die Arten haben aber so viel Selbständiges, daß die meisten auch als Vertreter eigener Sippen betrachtet werden müssen. Es läßt sich deshalb im allgemeinen nicht viel über sie sagen. Ueber die Begrenzung der Gruppe ist man noch keineswegs einig. Die einen rechnen die Erdferkel zu den Gürtelthieren, die anderen zu den Ameisenfressern, diese fassen Gürtelthiere, Erdferkel, Ameisenbären und Schuppenthiere zu einer Familie zusammen, und jene möchten jede Sippe zu einer besonderen Familie erheben.


Geripp der Tamandua. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp der Tamandua. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Der langgestreckte, mit Haaren, Borsten oder Schuppen bedeckte Leib dieser Thiere ruht auf niedrigen, starken Beinen. Der Hals ist kurz, dick und wenig beweglich, der Kopf lang, die Schnauze walzenförmig, der Schwanz bei den einen lang und buschig, bei den [513] anderen sehr lang, glatthaarig und greiffähig, bei einigen wieder kurz und schlaff, bei einigen mehr oder minder stumpf und mit Schuppen bedeckt. An den kurzen Füßen sitzen vorn zwei bis vier, hinten vier bis fünf Zehen, welche mit sehr starken Grabnägeln versehen sind; diese Nägel aber unterscheiden sich bei jeder einzelnen Sippe, ja bei jeder einzelnen Art sehr wesentlich. Auch das Gebiß zeigt große Unterschiede. Bei den Erdferkeln besteht es nur aus Backenzähnen in veränderlicher Anzahl, je nach dem Alter des Thieres, und zwar finden sich fünf bis acht in jeder Reihe des Oberkiefers und fünf bis sechs in jeder Reihe des Unterkiefers, bei den Ameisenbären und Schuppenthieren dagegen sucht man vergeblich nach Zähnen. Der Mund ist so klein, daß er eigentlich nur ein Loch vorn an der Schnauze bildet, durch welches die Zunge eben heraus und herein geschoben werden kann. Diese erinnert lebhaft an die der Spechte und hat unseren Thieren mit Fug und Recht den Namen »Wurmzüngler« verschafft; denn sie ähnelt wirklich einem langen Wurme und kann durch eigenthümliche Muskeln auffallend weit aus dem Maule gestoßen werden. Im Geripp finden sich dreizehn bis achtzehn rippentragende, zwei bis sieben rippenlose, vier bis sechs Lenden- und fünfundzwanzig bis vierzig Schwanzwirbel. Die Rippen sind stark und breit bei den wahren Ameisenfressern, rund und schmal bei den Erdschweinen usw.

Die Ameisenfresser bewohnen die Steppen Süd-und Mittelafrikas, Südasiens und einen großen Theil von Südamerika. Trockene Ebenen, Felder, Steppen oder auch Wälder, in denen es zahlreiche Ameisen-und Termitenhaufen gibt, sind ihre Wohnplätze. Je öder und einsamer die Gegend ist, um so mehr geeignet erscheint sie den Ameisenfressern; denn um so ungestörter können sie ihrem Vernichtungskriege gegen die pflanzenverwüstenden Termiten obliegen. Die meisten Arten wohnen in selbstgegrabenen, großen, unterirdischen Höhlen oder tiefen Gängen und verstehen das Graben so meisterhaft, daß sie in kürzester Frist einen neuen Gang sich ausscharren, ebensowohl, um einen Raubzug gegen das Heer der Ameisen zu unternehmen, als um sich vor Verfolgungen zu schützen; andere Arten leben theils in Löchern zwischen den Baumwurzeln, theils auf den Bäumen. Kein einziger Ameisenfresser hat einen bestimmten Aufenthalt, alle Arten schweifen umher und bleiben da, wo es ihnen gefällt, an nahrungsreichen Orten länger als an nahrungsarmen. Mit Tagesanbruch wird ein Gang gegraben, und in ihm verhält sich der Ameisenfresser bis zum Abend, dann kommt er heraus und trollt weiter. Nur die auf den Bäumen lebenden sind wirkliche Tagthiere, alle übrigen abgesagte Feinde des Lichtes. Der Geselligkeit feind oder nicht zugethan, lebt jeder einzelne für sich und höchstens zur Zeit der Paarung, aber immer nur [514] kurze Zeit, mit seinem Gatten zusammen. Alle sind mehr oder weniger träge und schläfrige Gesellen, schwerfällig, langsam, unbeholfen in ihren Bewegungen, langweilig in ihrem Wesen, stumpfsinnig, dumm und ungeschickt. Bei manchen ist der Gang ein höchst sonderbares Fortholpern, da sie bloß mit der Sohle der Hinterfüße und dem Außenrande der Vorderfüße den Boden berühren, also gleichsam auf den Nägeln gehen und sich auch keineswegs beeilen, vorwärts zu kommen. Ein Schritt nach dem anderen wird langsam gemacht, und der Schwanz muß noch helfen, um das Gleichgewicht zu vermitteln. Das dicke Erdschwein trollt oder trabt mit kurzen, schnellen Schritten dahin, der arme Ameisenbär aber humpelt in einem wirklich mühseligen Galopp fort, obgleich er rasch sich fördert. Die kletternden Arten sind viel geschickter, und der starke Wickelschwanz thut ihnen dabei gute Dienste.

Alle nehmen ihre Nahrung auf höchst sonderbare Weise zu sich. Sie öffnen mit ihren furchtbaren Krallen einen Termitenbau oder einen Ameisenhaufen, strecken ihre lange, klebrige Zunge hinein, lassen die erbosten Kerfe sich wüthend darauf festbeißen und ziehen sie plötzlich, wenn das bewegliche Heer in wimmelndem Gedränge auf dem klebrigen Faden herumtanzt, in den Mund zurück, sammt allen Kerfen, welche gerade darauf sich befinden. In dieser Weise nähren sich unseres Wissens nur wenige andere Thiere, Spechte und Wendehälse nämlich, vielleicht noch, wie bereits bemerkt, die Lippenbären. Einige Ameisenfresser können auch kleine Würmer, Käfer, Heuschrecken und andere Kerfe mit den Lippen aufnehmen und verschlucken, und die kletternden Arten sind im Stande, mit ihrer langen Zunge verborgene Kerfe und Würmer aus Ritzen und Höhlen nach Spechtart hervorzuziehen.

Unter den Sinnen dürften Geruch und das Gehör am meisten ausgebildet sein; Gefühl offenbart sich auf der Zunge; die übrigen Sinne scheinen ungemein stumpf zu sein. Ihre geistigen Fähigkeiten sind höchst gering. Sie sind ängstlich, vorsichtig, harmlos, kurz schwachgeistig, und nur wenige machen von ihren furchtbaren Waffen Gebrauch, umfassen ihre Feinde mit den langen Armen und Krallen und zerfleischen sie auf gefährliche Art. Die Stimme besteht in einer Art von Brummen, Murren oder Schnauben; eine Art scheint aber vollkommen stumm zu sein. Das Weibchen bringt nur ein Junges zur Welt, schützt und vertheidigt es mit großer Liebe und schleppt es unter Umständen lange auf dem Rücken umher.

Dem Menschen werden bloß diejenigen Arten schädlich, welche in der Nähe der Wohnungen ihrem Ameisenfange nachgehen und zu diesem Zwecke den Boden auf weite Strecken hin unterwühlen. Dagegen nützt man die erlegten Ameisenfresser, indem man Fleisch, Fell und Fett, auch wohl die Krallen verwerthet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 513-515.
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