Wanderungen der Thiere

[841] Wanderungen der Thiere, eine eigene, nicht überall vollständig erklärte Erscheinung in dem Leben mancher Thiere, nach welcher sie theils zu bestimmter, theils unbestimmter Zeit den gewöhnlichen Aufenthaltsort verlassen u. nach einiger (ebenfalls bestimmter od. unbestimmter) Zeit zurückkehren od. einen neuen erwählt haben. Solche W. d. T. (Züge) finden sich bei vielen Vögeln, mehren Mäusearten, Heuschrecken, Fischen, Schildkröten, Ameisen etc. Bei den Zugvögeln, welche regelmäßig aus kälteren Gegenden in wärmere ziehen, ist es weder Mangel an Nahrung, noch Zwang der Kälte allein, welcher sie zu ihren Wohnungswechsel treibt, denn auch die im Käfig gehaltenen, nie dem Nahrungsmangel, noch der Kälte ausgesetzten, werden zur Wanderungszeit unruhig u. zeigen dadurch den in ihnen rege gewordenen Reisetrieb. Viele Vögel ziehen in einer bestimmten Ordnung, so bilden die Kraniche ein Y u. werden von einem kräftigen männlichen Vogel angeführt. Sie nehmen jährlich dieselbe Richtung, ziehen Tag u. Nacht, bei gutem Wetter wohl über 4000 Fuß hoch unter lautem Geschrei. Die Saatgänse bilden ein hinten offenes Dreieck bei ihren W., dir Enten eine gerade Linie; die Störche bringen den Winter in Afrika, bes. Ägypten zu; in ungeheueren Zügen wandern die Wachteln nach Südeuropa u. Nordafrika. Fast alle Vögel ziehen bei ihren W. den Tag über; es gibt aber auch einige, namentlich Singvögel, z.B. Nachtigall u. Grasmücke, welche nur des Nachts ziehen. Dennoch schlafen diese Vögel auch den Tag über nicht. Das Wandern der Strichvögel, z. B, der Wandertaube, ist mit diesen W. nicht zu verwechseln. Es hat viel weniger Räthselhaftes, obwohl es merkwürdig genug erscheint, wie oft so ungeheuere Schaaren einem gemeinschaftlichen Ziele (Futter aufzusuchen) entgegengehen. Mehre Schildkröten u. Krebse (zumal die Erdkrabbe), so wie viele Fische suchen Orte zur Ablegung ihrer Eier, wobei sie oft ansehnliche Reisen machen; dahin gehören unter andern die Thunfische, Störe, Hausen etc., die Schildkröten finden jedes Jahr denselben Ort für ihre Eier wieder. Einen ebenfalls bestimmten Weg nimmt die Wurzelmaus, welche, wenn auch nicht jedes Jahr, doch nur im Frühlinge aus Kamtschatka gerades Wegs nach Westen geht, bis zu dem Flusse Penschin, worauf sie sich südlich wendet u. im October wieder in ihrer Heimath eintrifft. Bei diesen, so wie bei den in nördlichen Gegenden wohnenden Hirschen, Rennthieren u. andern Grasfressern, welche Winters südwärts wandern, scheint das Auffinden reichlicherer Nahrung einen Hauptgrund abzugeben. Ungewisser ist der Grund bei den Lemmingen, welche von den norwegisch-schwedischen Gebirgen nach dem Bottnischen Meerbusen u. von dem Ural nach der Petschora u. dem Jenisey herabziehen, wobei eben sowohl ihre unermeßliche Menge, als auch die durch kein Hinderniß zu störende gerade Linie ihres Wegs merkwürdig bleibt. Gleicher Art wandert zu manchen Zeiten die Wald- u. Brandmaus. Die Heuschrecken, welche sich bisweilen in großen Zügen vom Schwarzen Meere an bis nach England u. die Niederlande ausgedehnt haben, wurden meist nur durch heftige Ostwinde getrieben. Das Wandern der Ameisen, bes. der Wanderameise, der Wallfische (welche von Norden nach Süden u. wieder zurück ziehen), mehre Wasser- u. Köcherjungfern, welche bisweilen in unermeßlichen Schaaren einer ziemlich geraden Linie folgen, der Klapperschlangen, welche auch zuweilen mehre Stunden weit schwimmen sollen, ist wohl nicht gehörig aufgeklärt. Die angeblichen Züge der Häringe aus dem Eismeer in die Nordsee etc. werden darum bezweifelt, weil dieser (kleine) Fisch zu solchen weiten Reisen keine Organe u. Kraft habe; es sei sein Erscheinen blos ein Aufsteigen aus der Tiefe, um zu laichen. Ebenso ist die Verbreitung mancher Thiere (z.B. der Wanderratten) zu erklären, die nur an Menge zunehmen u. darum sich in mehren Gegenden einheimisch machen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 841.
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