Zeitungsente

* Es ist eine Zeitungsente.

Ente nennt man eine in Zeitungen verbreitete, gleichsam fortschwimmende, aber wiederholt auftauchende Fabel oder Lüge. (Vgl. Grimm, Wb., III, 509.) Früher hiess sie blaue Ente; denn blau ist nebelhaft, nichtig, daher blauen Dunst vormachen, lügen (s. Ente 18, 23, 27). Damit ist aber die Zeitungsente noch nicht erklärt. Wurzbach erzählt in seinen Historischen Wörtern, S. 83, Folgendes: In den ersten Zeiten des französischen Kaiserreichs fehlte es nicht an ausserordentlichen Sieges berichten. Zur Verspottung der napoleonischen Schlachtberichte habe der brüsseler Egide Norbert Cornelissen dem Ernste den Scherz gegenübergestellt, indem er der lügentrunkenen Zeit einen Spiegel vorhielt und in einer Zeitung folgende Geschichte einrücken liess. Um die Gefrässigkeit der Enten zu beweisen und zu veranschaulichen, hat man einen interessanten Versuch vorgenommen. Zwanzig derselben seien gemeinschaftlich eingesperrt und eine nach der andern geschlachtet und zerhackt worden, um den übrigen als Futter zu dienen. Die erste wurde von den andern neunzehn sehr schnell verschlungen, dann wieder eine von achtzehn, wieder eine von siebzehn u.s.f. bis neunzehn von einer einzigen in verhältnissmässig sehr kurzer Zeit aufgefressen waren. Diese Anekdote ging allmählich durch alle europäischen Zeitungen, und tauchte nach einigen Jahren, hier bereits der Vergessenheit anheimgefallen, in einem amerikanischen Blatte wieder auf, und zwar vermehrt mit einem »wissenschaftlichen Certificat« über die Untersuchung des zuletzt am Leben gebliebenen Thieres, an dessen Speiseröhre man bedeutende Verletzungen gefunden haben wollte. Diese Geschichte soll nun die Stammmutter aller »Zeitungsenten« sein. So erzählt auch Quetelet den Ursprung der Redensart in einem Artikel über Norbert Cornelissen (Annuaire de l'Académie).Sanders bemerkt dagegen über den Ursprung des Worts (vgl. National Zeitung, Berlin 1856, Nr. 543), dass J.L. Frisch in seinem Teutsch-lateinischen Wörterbuche (1741, I, 106c) schon aus »alten teutschen Sprichwörtern, Fol. 856« die Bezeichnung: »Blaue Enten, tricae apinaeque« anführt, wie sich denn z.B. auch bei Paracelsus (Opera 1616, I, 62, a) findet: »Die Arzt sagen von andern blauen Enten« (d.h. sie fabeln allerlei) »wo der Ursprung herkommt« (S. Ente 27.) – Im Plattdeutschen findet sich in ganz ähnlichem Sinne der Ausdruck »Fisematenten« (visematentae), der auch, wie z.B., Claus Bur, v. 68 u. 938, visepetenten lautet, welches vielfach falsch, z.B. von J. Grimm in den Göttinger Gelehrten Anzeigen (1850, S. 763 ff.) aus Vice-Superintendenten gedeutete Wort, vielleicht nur eine besondere Art von »Enten« bezeichnet, wie denn nach Stalder, Schweizerisches Idiotikon (I, 174) die vorzüglich auf dem Bodensee sich findende Anas rufina »Bismattente« heisst. Dürfte man dabei in den ersten Silben von viscematenten eine Anspielung auf die Avisen, d.i. Zeitungen erblicken; so böte das plattdeutsche Wort den vollständigsten Pendant zu unserer heutigen »Zeitungsente.« – Das im Jahre 1776 in Paris erschienene Industrielle Lexikon gibt über die Entstehung des Wortes Zeitungsente folgende Erklärung: »Die Landwirthschaftliche Zeitung veröffentlichte ein eigenthümliches Verfahren, wilde Enten zu fangen. Man kocht, schrieb sie, eine starke und lange Eichel in einem Absud von Sennesblättern und Jalappe. Die so zubereitete Eichel bindet man an einen dünnen, aber starken Faden in der Mitte fest und wirft sie darauf ins Wasser. Das Ende des Fadens behält man in der Hand und verbirgt sich. Die Ente schwimmt heran und verschluckt die Eichel; diese hat aber in ihrer Zubereitung eine starke purgative Wirkung und kommt sofort wieder zum Vorschein. Darauf kommt eine andere Ente und verschluckt diese wiederum, eine dritte, vierte und so fort. So reihen sich alle an demselben Faden auf. Man berichtet bei dieser Gelegenheit, dass ein Huissier in der Nähe von Guede-Chaussée zwanzig Enten auf diese Weise aufgereiht habe. Darauf flogen die Enten auf und nahmen den Huissier mit; der Strick riss und der unglückliche Jäger brach ein BeinDieses Urbild aller Zeitungslügen erlangte einen Ruf; und schliesslich griff man – zur Bezeichnung einer derben Ungeheuerlichkeit – aus der obigen famosen Entengeschichte nur das eine Wörtchen heraus, um durch dasselbe fortan jede offenbare Erfindung und Erdichtung zu kennzeichnen. (Nordböhmisches Volksblatt, 1876, Nr. 42.) – In Schelmuffky's curiöser Reisebeschreibung in hochdeutscher Frau Muttersprache (Schelmerode 1616, neu, Leipzig 1848) heisst es übrigens schon: » ... So wusste ich allemalen so eine arttige Lüg-Ente vorzubringen.« Mit Bezug auf den Ausdruck Lüg-Ente bemerkt der Verfasser eines Artikels in den Blättern für literarische Unterhaltung (1865, S. 174), dass dies nur eine witzige Umdeutschung für Legende sein könne. »Der Reformation lag es nahe, indem sie die Heiligenverehrung als Abgötterei verwarf, auch der Legende den Glauben [562] aufzukündigen; und so sprach schon Luther von einer Lügend von St. Chrysostomus. Daraus ward bald eine Lug- Ente; und war man so weit, so ward auch die Ente allein als Lüge verstanden. Nicht das Untertauchen und Wiederhervortauchen allein, sondern das leere Geschnatter ist dabei als mitwirkend zu dem Misverständniss anzusehen.« – Wurzbach (II, 85) sucht die Bezeichnung aus dem fortwährenden enten- artigen Wiederauftauchen einer Nachricht in verschiedenen Zeitungen, unbekümmert darum, ob sie wahr oder erdichtet ist, zu erklären. Er bemerkt, ein Schreiner, Kreischer u.s.w. sei früher »Antenmayer« genannt worden. – Nach neuern Erfahrungen sollen aber auch die wirklichen Enten eine Lebenszähigkeit besitzen, wie man sie bisher nur an den Zeitungsenten gekannt hat. Wenn es nicht ebenfalls eine solche ist, soll nach der Brünner Zeitung vom Jahre 1862 in Mährisch-Weisskirchen eine Ente in einen unterirdischen Abzugsstollen gerathen sein, in dem es nicht nur an allem Licht, sondern auch an athembarer Luft fehlte; nach länger als einem Jahre soll man sie kürzlich (1863) bei einer Oeffnung des Kanals noch am Leben gefunden und auch darin erhalten haben. (Breslauer Zeitung, 1863, Nr. 511, 1. Beil., S. 2677.) – In Frankreich werden gedruckte Flugblätter, die auf der Strasse verkauft werden, canards, Enten, genannt, und donner des canards à quelqu'un heisst: Jemand etwas weiss machen.

Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 5. Leipzig 1880, Sp. 562-563,1821.
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