Gerade

[192] Gerade ist die Gesammtheit gewisser, durch Gesetz und Herkommen bestimmter beweglicher Sachen, welche, wenn sie sich in dem Gebrauche und Gewahrsam einer Frau befinden, nur wieder von einer Frau geerbt werden können. Vorzüglich werden diejenigen Sachen, welche zur weiblichen Bekleidung und zum Frauenschmuck gehören, sowie eine Menge anderer, zum eigentlichen Hausgeräthe gehörige Gegenstände hieher gerechnet. Man unterscheidet Witwengerade und Niftelgerade; erstere besteht aus den beweglichen Sachen, welche eine Witwe nach ihres Ehemannes Tode aus dem Nachlasse desselben ausschließlich für sich behalten darf. Die zur Gerade gehörigen Gegenstände werden der Witwe bei Berechnung des auf sie kommenden Erbtheils nicht angerechnet. Unter Niftelgerade versteht man diejenige, welche nach dem Tode einer Frau deren Niftel, d.h. die nächste weibliche Verwandte der Verstorbenen, erbt. Sie ist von geringerm Umfange als die Witwengerade und wird daher auch, im Gegensatze der Witwen- oder vollen Gerade, halbe Gerade genannt. Geistliche haben als Leute, die nicht waffenfähig sind und daher keinen Theil am Heergeräth (s.d.) haben, gleiche Rechte wie Frauenspersonen auf Geradeerbschaften. Um das Abtreten der Gerade an entferntere Verwandte zu vermeiden, wurden besonders unter Ehegatten sogenannte Geradekäufe gebräuchlich; sie sind in der Regel Scheinkäufe. Da nämlich Schenkungen unter Ehegatten im Allgemeinen verboten sind, so pflegen die Eheweiber, um ihren Männern den Besitz der Gerade auf den Todesfall zu sichern, dieselbe für einen in der Regel sehr geringen Preis schon bei Lebzeiten an ihre Ehemänner zu verkaufen und behalten sich den Besitz und Gebrauch der Gerade bis zu ihrem Tode dabei vor. Umgekehrt gehen die Ehemänner solche Scheinkäufe über das Heergeräthe mit ihren Ehefrauen ein. Die Gerade sind durch die neuern Gesetzgebungen fast überall aufgehoben worden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 192.
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