Denkmäler und Schriftsteller

[9] 150. Als unter Psammetich I. und seinen Nachfolgern, seit 660 v. Chr., zahlreiche Griechen nach Aegypten kamen, zunächst als Söldner, dann als Kaufleute, hat das Niltal und seine uralte Kultur ihr lebhaftes Interesse erregt, das sich noch steigerte, als im Lauf des sechsten Jahrhunderts mit den Anfängen der Wissenschaft bildungsbedürftige Männer Reisen zur Erweiterung ihres Wissens und ihrer Weltkenntnis unternahmen. Die Bekanntschaft mit einer von allen anderen völlig abweichenden, dabei in sich vollständig abgeschlossenen [9] und, wie man glaubte, Jahrtausende hindurch völlig stabilen Kultur, die den stärksten Gegensatz zu der gärenden Zerfahrenheit der griechischen Zustände bildete, hat auf die Griechen einen gewaltigen Eindruck gemacht und auf die Ausbildung sowohl der rationalistischen wie der mystisch-theosophischen Anschauungen mächtig eingewirkt. Sie verlangten Auskunft nicht nur über Monumente, Geschichte, Religion und Weisheit des Niltals, sondern auch über ihre eigene Vorzeit, deren Überlieferung die erwachende rationalistische Kritik als widerspruchsvoll und innerlich unmöglich erkannte und zu korrigieren versuchte, über die Herkunft ihrer Götter und Kulte, über den troischen Krieg, über Io, Proteus, Helena u.a.; und die Aegypter, die es verstanden, sich mit dem Nimbus geheimnisvoller Weisheit zu umgeben und das Alter ihrer Überlieferungen noch weit über die Tatsachen hinaus zu erhöhen, waren um Antworten, die den Fremden zusagten, wenig verlegen. Dazu kommen Anekdoten und Erzählungen, in denen sich die griechische Auffassung der fremdartigen Verhältnisse ausspricht, z.B. die Geschichten von den Pyramidenerbauern, von Rhodopis, von der Dodekarchie, von den Kasten; ferner echt aegyptische, wenn auch griechisch überarbeitete Sagen und Märchen, die an geschichtliche Gestalten anknüpfen (Moeris, Sesostris, Rhampsinit). Auch an einfachen Mißverständnissen fehlte es nicht. Die berufsmäßigen Dolmetscher, die als Fremdenführer dienten, haben diese Traditionen gepflegt und ausgebildet. So entstanden zahlreiche Erzählungen ganz derselben Art, wie sie heutzutage die Vorstellungen der nicht fachmännisch gebildeten Europäer einschließlich der gewöhnlichen Reisenden über den Orient beherrschen. Auf diesem Material, das dann durch Autopsie ergänzt ward, beruht ebensowohl die kurze Skizze, welche Hekataeos von Milet (um 520) von Aegypten gegeben hat, und aus der uns manche Notizen erhalten sind, wie die ausführliche Darstellung Herodots (um 430). Zuverlässige geschichtliche Kunde bieten diese Werke nur für die letzte Zeit der aegyptischen Geschichte (26. Dynastie), von der [10] sich eine recht gute Überlieferung bei den im Lande ansässigen Griechen erhalten hatte. Auch die Sagen über die Aethiopenzeit (25. Dynastie) lassen sich noch für die Geschichte verwenden; was vorher liegt, läßt dagegen ein historisch verwertbares Bild auch nicht einmal in den gröbsten Umrissen erkennen. Selbst die Folge der Hauptepochen ist aufs ärgste verschoben, die Pyramidenerbauer sind hinter das Neue Reich, unmittelbar vor die Aethiopen gestellt, Zahlen und Daten der Könige sind gänzlich unbrauchbar. Das ist auch bei Herodots Nachfolgern bis auf Ephoros und in der äußerst umfangreichen Literatur der ptolemaeischen und römischen Zeit nicht anders geworden; alle diese Schriftsteller, so sehr sie sich über die alten naiven Erzähler erhaben dünkten, haben doch im wesentlichen nur ihre Berichte in den modernen historischen Stil umgesetzt und weiter entstellt, so vor allem, mit starker und tendenziöser Idealisierung, Hekataeos von Abdera (300 v. Chr.), die Hauptquelle Diodors in dessen von Aegypten handelndem ersten Buch. Nur wo es sich um die bestehenden Zustände, Sitten, Religion und Mythologie handelt, bieten sie manches Wichtige, aber auch hier immer durchsetzt von griechischen Spekulationen und von den Einflüssen der graeco-aegyptischen Mischkultur von Alexandria. Von größtem Wert sind dagegen die auf Autopsie beruhenden Schilderungen des Landes durch intelligente, scharf beobachtende Reisende; hier steht neben dem sehr mit Unrecht in alter und neuer Zeit so oft angegriffenen Herodot, der sich überall, wo er aus eigener Erfahrung spricht, glänzend bewährt, die vorzügliche Schilderung Strabos (der 25 v. Chr. in Aegypten war) in erster Linie.


Im allgemeinen vgl. v. GUTSCHMID, De rerum aegypt. scriptoribus graecis, im Philologus X 522ff. = Kl. Schr. I; ferner die Zusammenstellung der griechischen Schriftsteller bei WIEDEMANN, Aeg. Gesch. Über Hekataeos und Herodot DIELS Hermes XXII; m. Forsch. I 183f. 192f. Über Hekataeos von Abdera SCHWARZ, Rhein Mus. 40 und jetzt JACOBY bei PAULY-WISROWA VII 2751ff. Über die späteren Darstellungen aegyptischer Sagen und ihre Abhängigkeit von Apion WELLMANN, Hermes 31, 221f. Nach Diod. I 96 stand in den ἀναγραφαὶ αἱ ἐν ταῖς ἱεραῖς βίβλοις [11] 150 nach Aussage der Priester sogar, daß Orpheus, Musaeos, Melampus, Daedalos, Homer, Lykurg usw. nach Aegypten gekommen waren! – Über einzelne Monumente geben die Griechen oft recht gute geschichtliche Notizen, die auf Übersetzungen der Inschriften beruhen (so der Abschnitt über die Obelisken bei Plinius 36, 64ff. und, aus Hermapion, bei Ammian 17, 4; die Angabe über Ramses bei Tac. Ann. JI 60; Diodors Beschreibung des Grabes des Osymandyas, d.i. des Ramesseums I 47ff. u.ä., wozu auch die Namen Chabryes c. 64, 1 und Mencherinos c. 64, 6 gehören; gleichartig ist auch die thebanische Königsliste des Eratosthenes); aber sie haben nie versucht, diese Daten zu einer wirklichen Geschichte zu verbinden.


151. Um diese Darstellungen zu verdrängen, hat unter Ptolemaeos II. Philadelphos um 280 v. Chr. der aegyptische Priester Manetho von Sebennytos die Geschichte seines Landes in drei Büchern (τόμοι) Αἰγυπτιακὰ ὑπομνήματα auf Grund der einheimischen Überlieferungen erzählt. Aber im Gegensatz zu seinen Schriften über aegyptische Religion, deren Einwirkung sich in der späteren Literatur vielfach nachweisen läßt, ist dies Geschichtswerk bei den Griechen unbeachtet geblieben. Um so größeres Interesse fand es bei den Juden, da sie hier, in den authentischen Überlieferungen Aegyptens, Belege für Ursprung und Alter ihres Volks suchten; und wenn auch die Ableitung von Aussätzigen, die Manetho ihnen gab, ihnen nicht behagte, so identifizierten sie dafür ihre Vorfahren mit den Hyksos und den Exodus mit deren Vertreibung. Auf diese Weise sind mehrere Stücke teils aus Manetho selbst, teils aus einer schon früh aus demselben ausgezogenen Epitome (einer Königsliste mit gelegentlichen kurzen Notizen) in die jüdische apologetische Literatur gekommen, und, mehrfach entstellt und durch fremdartige Zusätze erweitert, in Josephus' Verteidigungsschrift der Juden gegen Apion erhalten. Die christlichen Chronographen haben sich dann bemüht, die Chronologien der orientalischen Völker mit der Bibel auszugleichen; daher ist uns die Epitome aus Manetho bei ihnen bewahrt, in besserer Fassung durch den Begründer der christlichen Chronographie S. Julius Africanus (dessen Chronik bis 217 n. Chr. reichte), in wesentlich verschlechterter in der [12] (bis 326 n. Chr. reichenden) Chronik des Eusebios. Noch später sind auf Manethos Namen ähnliche Abrisse mit zurechtgemachter Chronologie gefälscht worden (παλαιὸν χρονογραφεῖον, Sothisbuch), die der Chronograph Panodoros (um 400 n. Chr.) benutzt hat; Synkellos hat das Sothisbuch für den echten Manetho gehalten, wodurch ältere Forscher bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein sich oft haben irreführen lassen. – Von anderen Schriftstellern, welche die einheimische Überlieferung wiedergeben, kennen wir nur Ptolemaeos von Mendes, aus dem eine Notiz über die Zerstörung von Auaris durch Amosis erhalten ist; doch sind vereinzelte aegyptische Angaben, die nicht aus Manetho stammen, auch in die Excerpte bei Josephus und den Chronographen gelangt. Über die Königsliste des Eratosthenes s. § 161 A.


Zu Manetho vgl. auch W. OTTO, Priester und Tempel im hellenist. Aegypten, II, 215. 228f. – Die Polemik Manethos gegen Herodot wird Jos c. Ap. I 14, 73 und fr. 85 (Etym. magn. s.v. λεοντοκόμος) hervorgehoben. Die Epitome des Africanus ist erhalten bei Synkellos und bis zur achtzehnten Dynastie in den sogenannten Excerpta Barbari (ed. SCHOENE in seiner Ausgabe des Eusebius und FRICK in den Chronica minora I), und zwar hier mit Benennungen für Dynastie 12-17 [d.i. 13-18], die aus einer anderen Quel le eingedrungen sind (§ 309 A.); die des Eusebius in der armenischen Übersetzung und bei Synkellos. Bei Eusebius sind einige Namen (I 8 Ubienthes. II 2 Kechôos. XII 4 Lamares) und vielleicht ganz vereinzelt ein Datum korrekter erhalten, außerdem die Liste der Dynastien vor Menes und der Aethiope Ammeris zu Anfang von Dynastie 26 [ferner die Notiz über Tahraqa a. Abr. 1306 und vielleicht die von Africanus abweichenden Daten für Dynastie 23. 24]; sonst ist seine Liste durchweg nur eine Verschlechterung der des Africanus. – Daß Josephus seine Excerpte nicht direkt aus Manetho entnommen hat und sie bei ihm mehrfach entstellt und mit fremden Elementen verbunden sind, habe ich Aegypt. Chronol. 71ff. gezeigt (vgl. Nachtr. S. 34, 5); dadurch ist auch der Hyksosvertreiber und erste König der achtzehnten Dynastie Ἄμωσις in Τέϑμωσις entstellt. – Jüngere Überarbeitungen Manethos liegen auch in den Überresten der antisemitischen Literatur Aegyptens vor, der außer Apion die Fragmente des Lysimachos und Chaeremon bei Jos. c. Ap. I 32. 34 angehören, und unter deren Einfluß auch Tacitus hist. V 3 steht. – Ptolemaeos von [13] Mendes aus Apion Aegypt. lb. 1: Tatian adv. gentes 38 und dessen Benützer. – Sonstige Reste einheimischer Literatur liegen außer in den angeführten Notizen bei Josephus und dem Barbarus wohl auch in der Angabe des Philosemiten Artapanos bei Eusebius praep. ev. IX 27, 3 über König Chenephres vor (§ 301 A.). – Die Einwirkung von Manethos theologischen Schriften läßt sich in der griechischen Literatur vielfach erkennen. Wie ihn Ptolemaeos I. für die Einführung der Sarapiskults heranzog (Plut. de Is. 28), so galt er den Späteren als der Vertreter der aegyptischen Lehren; daher ist das bekannte astrologische Gedicht, die ἀποτελεσματικά, das in Wirklichkeit auf babylonischen, nicht auf aegyptischen Lehren beruht, auf seinen Namen verfaßt, und für die Inder gilt Jâvana Manittha, d.i. »der Grieche Manetho« als astrologische Autorität. Ähnlich liegt es mit der Wirkung des Berossos § 320. – Sammlung der Fragmente Manethos [unzulänglich und für die religiösen Schriften unvollständig]: MÜLLER, FHG. II 511ff. [ein Fragment über Bokchoris und das Lamm in den proverb. Alexandrin. 21: ÄZ. 46, 135f.]. Aus der äußerst umfangreichen Literatur über Manetho, die zahlreiche phantastische und wissenschaftlich wertlose Werke enthält, haben dauernden Wert: BOECKH, Manetho und die Hundssternperiode, 1845 (auch in der Z. f. Geschichtswiss. II, 1844 mit Supplement). UNGER, Chronologie des Manetho, 1867. Über LEPSIUS' Arbeiten s. § 158; die Königslisten u.a. auch in meiner Aeg. Chronologie. Über die christliche Chronographie und die in ihr enthaltene Überlieferung (neben mehreren Aufsätzen v. GUTSCHMIDS in seinen Kl. Schriften) vor allem GELZER, Sextus Julius Africanus und die byzantin. Chronogr. 2 Bde., 1880, 1885. Eingehend habe ich die Überlieferung in meiner Aegyptischen Chronologie, Abh. Berl. Ak. 1904, zu analysieren versucht. – Im Sothisbuch ist Eusebius benutzt (Aeg. Chronol. S. 82, 2. 3; 84), die Namen der Könige sind zum Teil aus Manetho, zum Teil aus einer anderen aegyptischen Königsliste willkürlich zusammengestellt (Aeg. Chronol. S. 82, 2).


152. Manetho hat die Könige Aegyptens von Menes bis auf die letzte Eroberung durch den Perserkönig Artaxerxes III. (um 343 v. Chr.) in 30 Dynastien geteilt [die Epitome fügt die letzten Perserkönige bis auf Alexander als einunddreißigste Dynastie hinzu]. Sobald CHAMPOLLION die ersten Königsnamen der Denkmäler aus vorptolemaeischer Zeit gelesen hatte, trat der Wert dieser Listen ins hellste Licht: es zeigte sich, daß die griechischen Berichte für die Zeit vor Psammetich so gut wie wertlos waren, Manetho dagegen wirklich auf authentischer Überlieferung beruhte. Seine Dynastien [14] boten den Rahmen, in den sich die Könige der Monumente einordnen ließen. Das hat CHAMPOLLION für die Zeit seit der achtzehnten Dynastie, für die älteren bis zur vierten hinauf (die drei ersten sind dann durch spätere Funde hinzugekommen) LEPSIUS getan, dessen vielleicht glänzendste Leistung die fast durchweg richtige chronologische Anordnung seiner Denkmälerpublikation ist. Daß Manetho sich hier als unentbehrlicher Wegweiser erwies, hat dann häufig zu einer Überschätzung der Zuverlässigkeit der manethonischen Überlieferung geführt: man glaubte, daß nicht nur seine Königsliste, sondern auch seine Jahreszahlen unfehlbar seien, und korrigierte daher die Überlieferung, wo sie mit den inzwischen gefundenen Daten nicht übereinstimmte, um so den echten Manetho herzustellen. Damit verband sich der Wahn, daß seine Dynastien nicht kontinuierlich fortlaufend, sondern in vielen Fällen neben einander regiert hätten und er das selbst angegeben haben müsse; nur so ließen sich die zweifellos zu hohen Zahlen für die Zeit der älteren Dynastien, welche sich aus einer Zusammenaddierung seiner Posten ergeben, auf das für erforderlich gehaltene Maß reduzieren, ohne daß seine Autorität Einbuße erlitt. Von diesen Vorstellungen sind auch die Arbeiten von LEPSIUS beherrscht, der daher die Zahlen mit souveräner Willkür korrigierte und sich gegen die Angaben der von ihm selbst publizierten Denkmäler mehr als billig verschloß. Gegenwärtig kann diese ganze Art, Manetho zu benutzen, als wissenschaftlich überwunden gelten. Es ist offenkundig, daß seine Angaben nicht nur durch die Überlieferung entstellt sind, sondern schon von Anfang an viele Fehler enthalten haben, vor allem in den oft ganz unmöglichen Zahlen, aber auch in Namen und Folge der Könige. Auch seine Geschichtserzählung ist nach Ausweis der Bruchstücke bei Josephus durchaus nicht eine authentische Geschichte Aegyptens gewesen, auch nicht in Form einer in ihren Angaben im wesentlichen exakten Chronik, wie es die Geschichte des Berossos wenigstens für die späteren Zeiten war: sondern sie fügt in die gegen die älteren Nachrichten bereits stark entstellte [15] Königsliste eine große Anzahl populärer Traditionen, welche denselben unbestimmten und phrasenhaften Stil zeigen, wie die gleichartigen, in einheimischen Schriftstücken erhaltenen Erzählungen (§ 157). So ist Manetho ein deutlicher Beweis, daß sich eine wirkliche Geschichtsschreibung bei den Aegyptern nicht entwickelt hat. – Trotz all dieser Gebrechen sind seine Angaben auch jetzt noch in Zeiten, wo die Monumente so gut wie völlig versagen, nicht immer zu entbehren, wenn sie auch nur mit äußerster Vorsicht benutzt werden dürfen.


Daß CHAMPOLLION vor seinem Tode die Könige der zwölften Dynastie richtig erkannt hat, zeigt jetzt H. HARTLEBEN (§ 138 A.); aber veröffentlichen konnte er seine Entdeckung nicht mehr, und so hat hier erst LEPSIUS Bahn gebrochen (Über die zwölfte Dynastie, Abh. Berl. Ak. 1852). – Überschätzung Manethos auf Gebieten, wo uns authentische Denkmäler fehlen, tritt auch in SETHES Untersuchungen zur Geschichte Aegyptens wieder mehrfach hervor.


153. Wenn auch Manethos Dynastieneinteilung im einzelnen gelegentlich Bedenken unterliegt, ist sie doch fest eingebürgert und für jede Geschichtsdarstellung unentbehrlich. Die 26 Dynastien von Menes bis auf die Eroberung Aegyptens durch Kambyses 525 v. Chr. gliedern sich in mehrere Gruppen. Zunächst treten drei Höhepunkte hervor: das Alte Reich (die Pyramidenerbauer von Memphis), Dynastie 4, 5; das Mittlere Reich (Thebaner), Dynastie 11 bis 13; das Neue Reich (Thebaner), Dynastie 18-20. Daran schließt sich als eine vierte Epoche die Restaurationszeit der sechsundzwanzigsten Dynastie (Psammetich und seine Nachfolger). Zwischen diesen Höhepunkten liegen Jahrhunderte des Verfalls, der Zersetzung des Staats, mehrfach auch der Fremdherrschaft. Dem Alten Reich voran gehen die Anfänge des Pharaonenreichs, die Thiniten der ersten und zweiten Dynastie, Menes und seine Nachfolger, deren Denkmäler uns erst im letzten Jahrzehnt erschlossen sind; und auch in die diesen vorausliegende, mehr als ein Jahrtausend umfassende älteste Entwicklung des Aegyptertums (die man häufig mit einem schief gewählten und [16] irreführenden Terminus als vorgeschichtliche oder gar als vordynastische Zeit bezeichnet) haben Ausgrabungen und Rückschlüsse aus den Zuständen, die wir seit Menes antreffen, einen lebendigen Einblick gewährt. Auch hier noch ist eine Scheidung in mehrere Perioden möglich; die dem Pharaonenreich des Menes vorangehenden beiden Reiche der »Horusverehrer« und vor diesen ein uraltes unteraegyptisches Reich sind historisch durchaus greifbare Größen. Somit gliedert sich die aegyptische Geschichte in folgende Perioden (über die Daten s. § 163):

  • 1. Die Urzeit.
  • 2. Das älteste Unteraegyptische Reich (um 4240 v. Chr.) und die beiden Reiche der Horusverehrer.
  • 3. Die Thiniten, Dynastie 1. 2, um 3315-2895 v. Chr.
  • 4. Das Alte Reich, Dynastie 3-5, um 2895-2540 v. Chr.
  • 5. Der Ausgang des Alten Reichs und die Übergangsepoche:
    • a) Dynastie 6-8, die letzten Memphiten, um 2540 bis 2360 v. Chr.
    • b) Dynastie 9. 10, die Herakleopoliten, um 2360 bis 2160 v. Chr.
  • 6. Das Mittlere Reich, Dynastie 11. 12, 2160-1785 v. Chr.
  • 7. Zersetzung und Fremdherrschaft:
    • a) Dynastie 13, die letzten Thebaner des Mittleren Reichs, 1785 bis ca. 1680 v. Chr.
    • b) Die Hyksoszeit, Dynastie 14-17, ca. 1680 bis 1580 v. Chr.
  • 8. Das Neue Reich, Dynastie 18-20, 1580-1100 v. Chr.
  • 9. Aegypten unter den libyschen Söldnern, Aethiopen und Assyrern, Dynastie 21-25, 1100-663 v. Chr.
  • 10. Die Restaurationszeit, Dynastie 26, 663-525 v. Chr.
  • 11. Die Perserzeit, Dynastie 27-31, 525-332 v. Chr.
  • 12. Die Makedonische Herrschaft (Ptolemaeer), 331 bis 30 v. Chr.

154. Aus den drei großen Blüteperioden Aegyptens sind Denkmäler in Fülle erhalten, und auch aus der Thinitenzeit [17] sind sie schon ziemlich zahlreich. Gräber mit Beigaben, Überreste des Hausrats u.ä. reichen in noch weit frühere Zeiten hinauf. Hieroglyphische Inschriften treten uns zuerst in den letzten Generationen vor Menes entgegen; unter den Thiniten ist die Schrift (Monumentalschrift und Cursive) in der Verwaltung des Hofs und des Staats schon ganz allgemein verwendet worden. Manche in späteren Denkmälern erhaltene literarische Texte (z.B. die Pyramidentexte, Sagen wie die von der Vernichtung des Menschengeschlechts, medizinische Schriften) reichen zum Teil bis in diese Zeit, vielleicht selbst über Menes hinauf. Gleichzeitige Akten (Rechnungen des königlichen Haushalts) sind uns seit der fünften Dynastie erhalten, königliche Verordnungen u.ä. gelegentlich inschriftlich schon früher. Im übrigen sind wir zunächst auf die Verwertung der kurzen Notizen angewiesen, welche sich auf Geräten, Weinkrügen und anderem Inventar, Schmucksachen, Grabstelen u.a., sowie auf den Jahrtafeln der ältesten Zeit (§ 223) finden. Seit dem Ende der dritten Dynastie werden die Gräber der Vornehmen reicher mit Darstellungen und kurzen Beischriften ausgestattet, die Ämter und Titel der Verstorbenen werden aufgezählt, die Formeln der Totenopfer und des jenseitigen Lebens aufgezeichnet; daneben kommen vereinzelt auch etwas ausführlichere biographische Angaben vor, ferner Berichte über Ehrungen, über Ausstattung des Grabes durch den König, testamentarische Bestimmungen über den Totenkult u.ä. Viel mannigfaltiger werden die Denkmäler im Mittleren und vor allem im Neuen Reich, da jetzt zu den Gräbern die gewaltigen Steintempel mit ihren, in einzelnen Fällen auch historische Berichte enthaltenden Königsinschriften hinzutreten; von den Tempeln des Alten und Mittleren Reichs dagegen sind bisher nur einige wenige in sehr zerstörtem Zustand bekannt geworden. Dazu kommen Bauinschriften, Aufzeichnungen an Felswänden über Expeditionen, Biographien in den Gräbern u.a. Zu den Inschriften treten in stets wachsender Zahl Urkunden, Briefe, literarische Texte auf Papyrus (gelegentlich auch auf Leder und Tonscherben) hinzu. Freilich beruht es immer auf Zufall, ob uns [18] aus einer Epoche derartiges Material in größerem Umfange erhalten ist; so gehört von den Papyri, die wir aus dem Neuen Reich besitzen, die große Masse dem Ende der neunzehnten und der zwanzigsten Dynastie an. Eine ganz eigenartige Quelle von höchstem Wert bilden die 1887 gefundenen Korrespondenzen mit den asiatischen Königen und Vasallen auf Tafeln mit Keilschrift aus dem Archiv Echenatons in Tell el Amarna (nach 1400 v. Chr.). Äußerst dürftig ist dagegen das Material für die Zeiten des Verfalls zwischen dem Alten und Mittleren und dem Mittleren und Neuen Reich, d.i. vom Ende der sechsten bis zum Ende der elften und von der dreizehnten bis zum Ende der siebzehnten Dynastie. Für die erstere Epoche sind überhaupt erst in den letzten 25 Jahren Denkmäler und Inschriften gefunden worden; und wenn für die dreizehnte Dynastie eine Anzahl Denkmäler, namentlich Königsstatuen, schon lange bekannt sind, so sind die Überreste der Hyksoszeit auch jetzt noch ganz spärlich. Wesentlich reichhaltiger sind die Denkmäler und Inschriften aus der Spätzeit, Dynastie 21-25, trotz des Verfalls und der Fremdherrschaft; unter der sechsundzwanzigsten Dynastie werden sie dann noch viel zahlreicher, bieten jedoch, infolge der Eigenart der damaligen Kultur, geschichtlich nur geringe Ausbeute. Wenn so die in Monumenten und Papyri erhaltene Überlieferung durchweg lückenhaft und aufs mannigfachste vom Zufall beherrscht ist, so haben wir überdies noch in der gesamten Geschichte Aegyptens mit dem Übelstande zu rechnen, daß sich solche Denkmäler fast nur in Oberaegypten erhalten haben, während der feuchte Boden des Deltas nur ganz ausnahmsweise (vor allem in Tanis und Bubastis) einiges wenige bewahrt hat, und die Denkmäler von Memphis, der weitaus wichtigsten aller aegyptischen Städte, durch ihre Benutzung für die Bauten von Kairo fast völlig verschwunden sind – erhalten ist hier nur die geradezu unerschöpfliche Riesennekropole, die (wie die von Theben) noch ununterbrochen neue wichtige Funde spendet. Während daher für die Griechen das Delta und Memphis im Vordergrunde gestanden [19] haben, tritt uns die Kultur und Geschichte Aegyptens immer nur vom oberaegyptischen Standpunkt aus entgegen; alle Versuche, diese Einseitigkeit zu korrigieren, können niemals völlig zum Ziele führen, da uns hier eben fast alles authentische Material fehlt und immer fehlen wird. Nachrichten fremder Völker (vor allem der aethiopischen Denkmäler, daneben der Israeliten und Assyrer und dann der Griechen) kommen nur für die letzte Zeit Aegyptens, nach dem Ende des Neuen Reichs, in Betracht.


Übersicht der wichtigsten Denkmälerpublikationen: die großen Sammelwerke von CHAMPOLLION, ROSELLINI, LEPSIUS g. § 148f. Ferner aus älterer Zeit: LEPSIUS, Auswahl der wichtigsten Urkunden, 1842. PRISSE D'AVENNES, Mon. égypt., 1847; ders., Histoire de l'art égypt., Atlas 1878 (die Inschriftensammlungen von YOUNG, BURTON, WILKINSON u.a. kommen jetzt kaum noch in Betracht). BRUGSCH, Recueil demonum. égypt., 1862ff. (in Teil 1 u. 2 Auswahl historischer Texte). Ferner die Publikationen von MARIETTE und DÜMICHEN, sowie BRUGSCH, Thesaurus inscr. aegypt., 6 Bde., 1883ff. (astronomische, kalendarische, geographische, religiöse und historische Texte mit Kommentar). PIEHL, Inscr. hierogl., 3 Serien, 1886ff. Die Serien des Egypt Exploration Fund, die Memoirés de la mission archéol. française au Caire und ihre Fortsetzung in den Mém. de l'institut français d'archéol. orientale au Caire, die Bände des Catal. général des ant. égypt. du musée du Caire, sowie die Zeitschriften (Z. f. aeg. Sprache, Recueil de monuments, Proceedings of the Soc. of Bibl. Arch.) und seit 1900 die Annales du service des antiquités de l'Egypte. Eine große Sammlung der historischen Inschriften in neu verglichenen Texten mit durchgeführter Satztrennung und erläuternden Bemerkungen ist unter STEINDORFFS Leitung begonnen (Urkunden des aegypt. Altertums; erschienen sind bis jetzt: Urkunden des Alten Reichs, Urkunden der achtzehnten Dynastie, Hierogl. Urkunden der grie chisch-römischen Zeit, sämtlich herausgegeben von SETHE; Urkunden der älteren Aethiopenkönige, herausgegeben von H. SCHÄFER). Eine vortreffliche Übersicht der Entdeckungen und wissenschaftlichen Arbeiten jedes Jahre gibt GRIFFITH in seinen Jahresberichten (Egypt Expl. Fund, Archaeological report). Auswahl von Texten (übers. von H. RANKE) und Abbildungen bei GRESSMANN, Altoriental. Texte und Bilder zum Alten Test., 1909.


155. Wenn gegenwärtig auch, dank den ständig sich mehrenden Funden und vor allem dem immer tiefer dringenden Verständnis der Texte, sich für einzelne Abschnitte wenigstens [20] in groben Umrissen, die durch mancherlei kleines Detail belebt werden können, eine wirkliche zusammenhängende Geschichte Aegyptens herstellen läßt, so dominiert doch auch da, wo ziemlich reiches Material vorliegt, durchaus die Schilderung des Zuständlichen, während wir die Entwicklung, den geschichtlichen Prozeß des Werdens und Vergehens, in der Regel nur ahnend erschließen können. Es kommt hinzu, daß die Angaben der Denkmäler durchweg einseitig und nicht selten wenig zuverlässig sind. Immer ist die Absicht, besonders ruhmvolle Episoden hervorzuheben, den König oder den Grabherrn ins glänzendste Licht zu stellen, während alles andere nur kurz angedeutet, die Mißerfolge gänzlich verschwiegen werden. Die Könige des Neuen Reichs, namentlich der neunzehnten und zwanzigsten Dynastie, haben vielfach ältere Texte (namentlich auch die Listen der besiegten Völker) einfach kopiert, ja nicht selten Denkmäler älterer Könige für sich usurpiert und ihre Namen an deren Stelle setzen lassen. Überdies sind diese Tempel- und Grabinschriften fast alle in dem getragenen aegyptischen Stil abgefaßt, der jedes nähere Eingehen auf die geringschätzig angesehenen Realitäten des täglichen Lebens für unfein hält, die Sprache desselben möglichst vermeidet, und sich daher immer in allgemeinen rhetorischen und poetischen Wendungen bewegt. Im Gegensatz zu den in ihrem historischen Teil meist recht nüchtern gehaltenen Annaleninschriften der Babylonier und Assyrer und der Aethiopen wollen diese Texte gar keine zusammenhängende, rein geschichtliche Erzählung geben, sondern nur einzelne Episoden herausgreifen und verherrlichen. Eine Ausnahme bilden nur die Annalen Thutmosis' III., einige Biographien in Offiziers- und Beamtengräbern, manche Felsinschriften höherer Beamten. Es ist also bei der Benutzung dieses Materials eine vorsichtige Erwägung dessen, was als wirkliche Tatsache zu Grunde liegen mag, dringend geboten; neuere Forscher sind freilich umgekehrt mitunter in dem Mißtrauen gegen Angaben der Denkmäler über das Ziel hinausgegangen (so vor allem W. M. MÜLLER).

[21] 156. Eine zusammenhängende geschichtliche Darstellung, welche die unentbehrliche Ergänzung des Denkmälermaterials bilden würde, besitzen wir nicht und hat es auch niemals gegeben. Dagegen reichten geschichtliche Aufzeichnungen allerdings bis in die Zeit vor Menes hinauf. Derart sind schon die den Vorstufen der Schrift angehörigen Darstellungen der Schminktafeln (§ 200f.), sodann die von Menes an mehrfach erhaltenen Elfenbein- und Ebenholztafeln, auf denen der Name und die wichtigsten Ereignisse des Jahres verzeichnet sind. Namen und Folge der Könige waren bis weit über Menes hinauf bekannt, wenn es uns auch unmöglich ist, genauer zu bestimmen, von welcher Zeit an sie geschichtlich zuverlässig waren. Aus diesen Materialien hat man schon sehr früh offizielle Annalen zusammengestellt; ein Bruchstück einer solchen Chronik aus der zweiten Hälfte der fünften Dynastie (unter Neweserrê'), die auf einer großen Steinplatte wahrscheinlich in einem Tempel (in Heliopolis?) aufgestellt war, ist uns auf dem Stein von Palermo (§ 206) erhalten. Dem Charakter des Pharaonenreichs entsprechend dominieren die Angaben über Hof- und Götterfeste, Bauten, Schenkungen an die Tempel u.ä.; doch fehlt es auch nicht an Angaben über die Verwaltung, Kriege und Seefahrten. Von Menes an ist hier jedes Jahr verzeichnet gewesen; voran ging eine Liste der Könige der älteren Dynastien, ohne Jahresangaben, und nach oben war dieselbe offenbar schon damals, ebenso wie in allen späteren Überlieferungen, durch einen Abriß der Sagengeschichte ergänzt, der mit der Herrschaft der Götter auf Erden, von Re' oder Ptaḥ abwärts, begann. Derartige Annalen (gnwt nt zrtjw, »Annalen der Vorfahren«) sind während der folgenden Jahrtausende am Königshof ständig geführt worden und werden in den Königsinschriften nicht selten erwähnt; ebenso ihr Beginn mit der Herrschaft der Horusverehrer (z.B. LD. III 5 a, 15 = SETHE, Urkunden der 18. Dynastie S. 86) oder »der Zeit des Re'« (z.B. LD. II 118 d = GOLÉNISCHEFF, Hammamat 8 Zl. 6; LD. III 193, 27). Über die Kriegszüge Thutmosis' III. sind von einem Sekretär [22] Berichte verfaßt worden, aus denen seine Annalen an der Tempelwand von Karnak einen kurzen Auszug bilden (vgl. BREASTED, Anc. Rec. II 391ff.); und eine Darstellung der Geschichtsgöttin, welche die Kriegstaten des Königs aufzeichnet, findet sich schon im Tempel des Saḥurê' (5. Dynastie, § 253). Auch der Abriß der Regierungsgeschichte Ramses' III., der als Anhang zu einem ausführlichen Verzeichnis seiner Schenkungen an die Götter ihm ins Grab mitgegeben ist – diese gewissermaßen zu seiner Legitimation beim Eintritt in die Götterwelt dienende Papyrusrolle ist uns erhalten (großer Papyrus HARRIS) – , geht auf derartige Königsannalen zurück. Ebenso sind die täglichen Geschäfte, die Verwaltungsmaßregeln, gesetzlichen und richterlichen Entscheidungen des Königs regelmäßig aufgezeichnet und im Archiv verwahrt worden. Ähnlich war es an allen Verwaltungsbureaus, den Gerichtshöfen, den Tempeln; sie alle hatten ihre Archive, in denen man ältere Entscheidungen und geschichtliche Tatsachen nachsehen konnte; manche derartige Aktenbündel sind uns aus dem Mittleren und Neuen Reich erhalten. Ebenso waren natürlich die Gesetze, die Instruktionen der Beamten u.ä. aufgezeichnet; von letzteren ist uns die Instruktion des Vezirs im Grabe des Rechmerê' unter Thutmosis III. erhalten. Aber zu einer Geschichtsdarstellung ist dies gewaltige Material niemals verarbeitet worden; für die praktischen Zwecke einer chronologischen und sachlichen Orientierung genügte eben die Zusammenstellung der Königsannalen. Ähnliche Annalen hat man offenbar auch in den Tempeln geführt; Angaben über ihre Baugeschichte, die auch hier bis in die Urzeit hinauftragen (ob immer geschichtlich zuverlässig, ist eine andere Frage), sind in Tempelinschriften der späteren Zeit mehrfach erhalten. Ob die Königsannalen in den Zeiten des Verfalls und der Anarchie immer vollständig waren, läßt sich nicht entscheiden; wenn wir sie besäßen, würden wir gewiß vielfache Unterschiede in der Art, wie sie in den einzelnen Epochen geführt wurden, erkennen können. Für die gewöhnlichen Bureaus genügte ein kurzer Auszug daraus, eine [23] einfache Königsliste mit genauer Angabe der Länge der einzelnen Regierungen, die für das Verständnis der Daten der Urkunden unentbehrlich war. Eine derartige Königsliste (die mit der Götterzeit beginnt und die Namen und Daten der Könige von Menes an aufzählt, nach Dynastien geordnet), etwa aus dem Ende der neunzehnten Dynastie, ist uns aus einem Verwaltungsbureau erhalten, wenn auch nur in Bruchstücken mit großen Lücken: der Königspapyrus von Turin (§ 162), geschrieben in Unteraegypten auf der Rückseite eines Rechnungsbuchs über Einkünfte aus der Oase aus der Zeit Ramses' II. Einzelne Versehen werden in demselben gewiß vorgekommen sein; aber soweit wir ihn kontrollieren können, erweisen sich seine Angaben fast durchweg als völlig zuverlässig und können daher als Grundlage für das äußere Gerippe der aegyptischen Geschichte verwertet werden. Auf ein gleichartiges Dokument geht offenbar (wie die übrigen erhaltenen Königslisten § 161) auch die Königsliste Manethos zurück, nur daß hier die Überlieferung der Namen und Zahlen vielfach schon aufs ärgste entstellt ist.


Auch dem Herodot (II 100, vgl. 142) lesen die Priester (von Memphis?) die Namen von 330 Königen aus einem Buch vor (vgl. Diod. I 44, 4. 46, 7f.). Zu der anschließenden Notiz über die Aethiopen und Frauen unter ihnen [in abweichender Fassung Diod. I 44, 2ff.] vgl. die gleichartige Notiz, die der Turiner Papyrus col. 2, 8 von den Königen vor Menes gegeben zu haben scheint (Aeg. Chronol. S. 120).


157. Im Gegensatz zu diesem offiziellen Material steht die volkstümliche Literatur der Aegypter. Sie hat gern Geschichten von den alten Königen erzählt, und manches Derartige ist uns erhalten, so die Geschichte von Cheops und den Anfängen der fünften Dynastie aus dem Mittleren Reich; die Geschichte vom Hyksoskönig Apophis und dem thebanischen Fürsten Seqenjenrê'; die Geschichte von der Eroberung Joppes durch einen Offizier Thutmosis' III.; die demotische Geschichte des Petubastis. Völlig gleichartig sind die aus Manetho erhaltenen Geschichten von der Invasion der Hyksos und von Osarseph und den Aussätzigen, die wörtlich ebenso in einem [24] aegyptischen Papyrus stehen könnten; auch die kurzen Notizen, die in der Epitome über die ältesten Könige gelegentlich erhalten sind, tragen denselben Charakter. In diesen Erzählungen sind die geschichtlichen Tatsachen noch erkennbar; aber sie sind zu Volkssagen geworden und mit populären Stoffen, Märchen und Wundern verknüpft, und gehören oft weit mehr der Märchenliteratur an. Herodots Erzählungen vom Schatz des Rhampsinit, von der Königin Nitokris, von Sesostris' Eroberungen und manche ähnliche Geschichten gehören in denselben Kreis. Daneben stehen poetische Texte, welche geschichtliche Ereignisse und Zustände zur Voraussetzung haben, wie im Mittleren Reich aus der klassischen Literatur die Erzählung des Sinuhet, aus der volkstümlichen die vom Seefahrer und dem Schlangenkönig. Gelegentlich sind derartige Erzählungen, wenn sie der Verherrlichung einer Gottheit dienten, auch inschriftlich erhalten, so die unter Ramses II. spielende Bentrešstele, oder auch die in einer Inschrift ptolemaeischer Zeit aufgezeichnete über die große Hungersnot und die Schenkung des Königs Ẕoser an Chnum von Elephantine (§ 230). Gleichartig ist die griechisch in einem Papyrus erhaltene Geschichte vom Traum des Nektanebos. Eine besondere Gattung der aegyptischen Literatur bilden die aus allen Epochen, hieratisch, demotisch, griechisch, zahlreich erhaltenen Prophezeiungen (§ 297), die zum Teil Anspielungen auf geschichtliche Ereignisse enthalten. Diese ganze Literatur ist nicht nur dadurch von höchstem Werte, daß sie uns die Denkweise der Aegypter und die Auffassung, die sie vom geschichtlichen Leben hatten, lebendig vorführt, sondern sie kann und muß auch kritisch als eine Quelle für die den geschichtlichen Sagen zu Grunde liegenden Tatsachen benutzt werden. Aber sie beweist zugleich, daß es, abgesehen von den offiziellen Annalen, eine wirkliche geschichtliche Literatur bei den Aegyptern so wenig gegeben hat, wie bei den Indern, sondern alle Überlieferung sofort in den Kreis des Wunderbaren gerückt wurde und eben darum neben den der Göttersage oder dem Märchen entnommenen Stoffen der Unterhaltung [25] dienen konnte. Mehr haben die Aegypter in der Geschichte nicht gesucht, wenn sie auch den Fremden gegenüber das Alter und die Zuverlässigkeit ihrer Geschichtskunde nach Kräften herausstrichen. So erklärt es sich auch, daß die Griechen, obwohl sie an Aegypten Jahrhunderte lang das lebhafteste Interesse nahmen, doch ein wirkliches Bild von seiner Geschichte auch nur in den gröbsten Umrissen niemals gewonnen haben. Ein Werk, wie das Manethos, konnte ihnen als Geschichtswerk nichts bieten; was sie von aegyptischen Erzählungen aufnahmen, interessierte sie nur entweder als Illustration für Denkweise und Sitten des merkwürdigen Landes oder einfach als Kuriosität, die eine Einreihung in einen geschichtlichen Zusammenhang nicht erforderte.


Die meisten der hier aufgezählten Sagen hat MASPERO, Les contes populaires de l'Egypte ancienne, 4. Aufl. 1912, gesammelt. Bentrešstele: ERMAN, ÄZ. 21, 1883. Die Geschichte von Thutmosis IV. und dem Sphinx trägt zwar ganz novellistischen Charakter (ERMAN, Ber. Berl. Ak. 1904, 428ff., vgl. 1063), muß aber nach SPIEGELBERG, Orientalist Lit.-Z. VII, 1904, 288ff. 343 doch vielleicht als ein (wenn auch von Sethos I. restauriertes) authentisches Denkmal des Königs gelten. Petubastis: SPIEGELBERG, Der Sagenkreis des Königs Petubastis, 1910. Traum des Nektanebos: WILCKEN in den Mélanges Nicole (1906). Die Kambysesgeschichten (Bruchstücke einer koptischen Fassung: SCHÄFER, Ber. Berl. Ak. 1899, 727) und der graeco-aegyptische Alexanderroman sind diesen Erzählun gen völlig gleichartig und aus den gleichen Anschauungen heraus entstanden.


158. Die ersten Bearbeitungen der aegyptischen Geschichte nach Erschließung der Schrift (CHAMPOLLION-FIGEAC, der Bruder des Entzifferers; ROSELLINI; das phantastische Werk von BUNSEN, Aegyptens Stellung in der Weltgeschichte) haben nur noch historisches Interesse. Eine feste Grundlage hat LEPSIUS durch Anordnung seines Denkmälerwerks und mehrere Einzelabhandlungen (über die zwölfte Dynastie Abh. Berl. Ak. 1852; die zweiundzwanzigste Dynastie Abh. Berl. Ak. 1856; Königsbuch der alten Aegypter, 1858, vgl. § 161 A.) geschaffen; neben ihm ist vor allem E. DE ROUGÉ, Recherches sur les monuments, qu'on peut attribuer aux six premières [26] dynasties de Manethon, Mém. de l'acad. des Inscr. 25, 1866 zu nennen. Über die weitere Entwicklung der Aegyptologie und die Vermehrung des Materials s. § 149. Eine Übersetzung der wichtigsten historischen Inschriften, die vielfach mit genialem Blick das Richtige erkannte, hat BRUGSCH in seiner Geschichte Aegyptens 1877 (Zusätze 1878) gegeben. Ein reiches Repertorium namentlich aller Inschriften, die Königsnamen enthalten, bietet A. WIEDEMANN, Aegyptische Geschichte, 1884 (Supplement 1888); ein gleichartiges Repertorium der Denkmäler gibt PETRIE, A History of Egypt, 3 vol., 1894-1905. Inzwischen hatte G. MASPERO in seiner Geschichte des Orients (§ 147) zum ersten Male ein lebensvolles Bild der Entwicklung Aegyptens auf Grund einer umfassenden Kenntnis der Denkmäler gegeben, das er dann durch zahlreiche Einzelarbeiten erweitert und vervollständigt hat; die Ergebnisse seiner Forschungen sind in seiner Histoire ancienne (§ 147) zusammengefaßt. Eine gewaltige Förderung brachten die Arbeiten A. ERMANS, vor allem Aegypten und aegyptisches Leben im Altertum, 2 Bde., 1885ff., in dem zum ersten Male die innere Geschichte des Staats und der Kultur in festen Umrissen gezeichnet ist. Dieselbe Aufgabe habe ich in meiner Geschichte des alten Aegyptens (1885-1887, in der ONCKENschen Sammlung) zu lösen versucht, in der ich weit über die in der ersten Auflage des vorliegenden Werks (1884) gewonnenen Resultate hinauskommen konnte. Seitdem hat jedes Jahr zahlreiche Einzeluntersuchungen gebracht, sowohl im Anschluß an die Einzelausgrabungen und Inschriftenpublikationen (hier sind vor allem PETRIE und GRIFFITH zu nennen, auf dessen Jahresberichte § 154 A. auch hier verwiesen sei), wie in Aufsätzen in den Zeitschriften. Von größeren Werken seien nur das sehr fördernde Buch W. M. MÜLLERS, Asien und Europa nach altaeg. Denkmälern, 1893 (gegenwärtig bedarf das Material allerdings einer neuen Nachprüfung und Bearbeitung), und die von SETHE herausgegebenen Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Aegyptens, 1896ff. genannt; vor allem aber die auf langjährigen Vorarbeiten [27] beruhende Übersetzung und Kommentierung aller historischen Inschriften durch BREASTED: Ancient records of Egypt, 5 vol., 1906. Die Ergänzung dazu bietet seine History of Egypt, 1905.


Von sonstiger Literatur ist zu nennen: WILKINSON, Manners and customs of the ancient Egyptians, 1837ff. 2. Aufl. von BIRCH 1878, 3 Bde. RAWLINSON, History of ancient Egypt, 1881 ist ohne Wert, BUDGE, History of Egypt, 9 vol., 1902 kaum besser. – Die für seine Zeit vortreffliche Sammlung aller in den Denkmälern vorkommenden Königsnamen in LEPSIUS' Königsbuch ist jetzt durch GAUTHIER, Le livre des rois d'Egypte, in Mém. des membres de l'inst. franç. d'archéol. XVII. XVIII ersetzt, mit vielen Belegen, aber leider sehr unübersichtlich. – Unentbehrlich und reich an glänzenden Entdeckungen und kühnen Kombinationen ist BRUGSCH, Dictionnaire géographique 1878ff. (eine Neubearbeitung seiner geographischen Inschriften 1857ff,); einen nur mit Vorsicht zu benutzenden Abriß der Geographie Aegyptens enthält das unvollendete Werk von DÜMICHEN, Geschichte Aegyptens, 1878ff. (in der ONCKENschen Sammlung). Ferner: BRUGSCH, Die Aegyptologie, 1891 (Übersicht der Hauptergebnisse auf Grund der in seinem Thesaurus zusammengefaßten Untersuchungen). – Einen sehr achtungswerten und durchdachten, freilich nicht selten durch theoretische Konstruktionen auf Irrwege geleiteten und daher mit Vorsicht zu benutzenden Versuch, die Entwicklung Aegyptens und seiner Kultur einheitlich darzustellen, hat jetzt H. SCHNEIDER, Kultur und Denken der alten Aegypter, 1907 (Entwicklungsgeschichte der Menschheit I) unternommen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 9-28.
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