Herbart

[277] Herbart, Joh. Friedr., Philosoph, geb. 1776 zu Oldenburg, wurde 1794 in Jena Fichtes Schüler, als Hauslehrer in der Schweiz mit Pestalozzi bekannt, 1805 Prof. der Philosophie zu Göttingen, 1809–33 zu Königsberg, wo er sein eigenthüml. System ausarbeitete, das wenig mit Schelling und Hegel u. ebensowenig mit dem Christenthum gemeinsam hat; H. kehrte 1833 nach Göttingen zurück und st. 1841 daselbst. Hauptschriften: Allg. Pädagogik (1806), allg. prakt. Philosophie (1808), Hauptpunkte der Metaphysik (1808), Einleitung in die Philosophie (1813), Psychologie (1816), Psychologie als Wissenschaft (1824), allg. Metaphysik (1828), Encyklopädie der Philos. aus prakt. Gesichtspunkten (2. Aufl. 1840); Sämmtl. Werke Leipz. 1850–52 durch Hartenstein (s. d.). Der äußerst scharfsinnige H. betrachtete als Grundlage der Philosophie keine Vernunftidee, sondern das erfahrungsmäßige Wissen, als Stoff lediglich die Erfahrungsbegriffe u. ließ die Philosophie da beginnen, wo sich das Denken durch die zweifelnde Ueberlegung über das Gegebene erhebt und zur Erkenntniß gelangt, daß die Erfahrungsbegriffe doch keinen von logischen Ungereimtheiten freien Inhalt haben, obwohl sie sich auf Gegebenes beziehen. Während Hegel es als Natur der Begriffe und Dinge betrachtete: innerer Widerspruch zu sein, schob H. die Schuld dieser innern Widersprüche nicht der objectiven Welt, sondern dem vorstellenden [277] Subjecte zu. Die Widersprüche der gegebenen allgem. Erfahrungsbegriffe aufzufinden, fortzuschaffen und hiedurch die Erfahrung begreiflich zu machen – dies betrachtete H. als Aufgabe der Metaphysik und schuf ein System, das als eine Fortbildung von Leibnitzens Monadenlehre auf kantischen Grundlagen betrachtet werden darf. Das wahrhafte Sein, das Reale ist absolute Position, von uns nicht erst zu setzen, sondern nur anzuerkennen u. ist schlechthin unbeschränkt, einfach, unbestimmbar durch Größenbegriffe. Hauptprobleme der Metaphysik sind: das der Inhärenz (das Ding mit seinen Merkmalen), das der Veränderung (die Monaden sind an sich unveränderlich u. uranfänglich von einander verschieden, daher wird die Veränderung nur durch eine Theorie der Störungen u. der Selbsterhaltungen erklärt) u. das des Ich, mit welch letzterem sich besonders die Psychologie befaßt, wobei H. auf höchst scharfsinnige und eigenthüml. Weise die Mathematik anwendet. H. will kein Streben nach Einheit in der Philosophie; er trennt streng die theoretische u. praktische, isolirt die einzelnen Zweige, u. weiß von keinem Zusammenhange der speculativen Principien seines Systems mit Recht, Moral, Staat, Kunst oder Religion. Er gründet die ganze prakt. Philosophie auf das ästhet. Urtheil, dieses aber ist ein unwillkürl. u. unmittelbares und legt das Prädikat der Vorzüglichkeit oder Verwerflichkeit den Gegenständen ohne weitern Beweis bei. Ausgangspunkte der Religionsphilosophie sind ihm die ethischen Ideen (innere Freiheit, Vollkommenheit, Wohlwollen, Recht, Billigkeit) sowie die teleologische Naturbetrachtung. Die H.sche Schule (Drobisch, Exner. Hartenstein, Waitz, Thilo u.a.m.) hat niemals großen Einfluß gewonnen, doch wuchs sie an Bedeutung, während andere zerfielen u. dieselbe (vergl. »über H.s Metaphysik u. eine neue Auffassung derselben von Ad. Trendelenburg«, Berlin 1854) bekämpfen.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 277-278.
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