Musik

[376] Musik (gr. mousikê sc. technê v. mousa = Muse) bedeutete urspr. die musische, Geist und Gemüt bildende Kunst im allgemeinen, also das Gesamtgebiet der Ton-, Dicht- und Redekunst, Philosophie, Tanz-, Schauspielkunst, Astronomie und Grammatik. Bei den christlichen Völkern beschränkte man den Namen auf die Kunst, welche das Schöne durch Töne darstellt. So heißt jetzt Musik nur Tonkunst. Sie ahmt nicht nach, sondern stellt die Töne frei nach Gesetzen des Wohlklanges zusammen. Melodie, die wohlklingende Verbindung aufeinanderfolgender, Harmonie, die wohlklingende Verbindung gleichzeitiger Töne, und Rhythmus, die aus dem Wechsel der Zeitmaße, der Tonhöhe und Tonstärke hervorgehende regelmäßige Bewegung, sind die Faktoren der Tonkunst. Sie ist die älteste, weil unmittelbarste und für den Menschen natürlichste Kunst; sie ist die Vorstufe der Wortsprache, die Muttersprache des empfindenden Menschen. Aber zur vollen Kunst hat sich die Musik erst im Mittelalter und in der Neuzeit entwickelt. Ihr Stoff sind Töne, ihre Form ist die Zeit, ihre Mittel sind die menschliche Stimme (Vokalmusik) und künstlich hergestellte Instrumente (Instrumentalmusik), ihre Wirkung geht durchs Gehör auf das Gemüt, ihr Objekt ist alles, was sich bewegt, oder womit sich die Vorstellung einer Bewegung verbinden läßt. Besonders vermag sie Stimmungen darzustellen. Dagegen kann sie Anschauungen, soweit sie nicht Worte zu Hilfe nimmt, unmittelbar gar nicht wiedergeben. Diese müssen erst aus den angeregten Gefühlen durch die Phantasie des Menschen hinzugebracht werden. Durch die Gesetze des Rhythmus erhält die Musik ein mathematisches Gepräge, durch das sie der Architektur verwandt wird. Ihr Einfluß auf die Besänftigung der Leidenschaften wurde von den Alten überschätzt. Sie kann sowohl anregen wie beruhigen. Von den Künsten ist sie die, welche am meisten dilettantisch betrieben wird. Hierdurch, wie durch die Verwendung von Instrumenten, deren kraftvollen Tönen sich der Mensch nicht entziehen kann, wird sie leicht aufdringlich, und von keiner Kunst wird in der Gegenwart ein größerer Mißbrauch getrieben. Der allgemein herrschende Dilettantismus in der Musik ist eine[376] der schlimmsten Plagen und einer der Irrwege unserer modernen Erziehung. Die symbolische Anwendung der musikalischen Intervalle auf die Verhältnisse der Seelenteile, die Stände des Staates, ja die Bestandteile der Welt trifft man ebenso bei den Pythagoreern wie in den chinesischen Ritenbüchern des Li-king. Vgl. C. Stumpf, Tonpsychologie. 1883. Engel, Ästhetik der Tonkunst. 1884. E. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. 8. Aufl. 1891.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 376-377.
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