Verrenkung

[97] Verrenkung (Luxatio), das Ausweichen eines beweglichen Knochens aus seiner Gelenkverbindung, kommt als angebornes Übel meist bei gleichzeitig anderweit mißgebildeten Kindern vor, bisweilen entsteht sie von selbst (spontan) bei Gelenkkrankheiten, gewöhnlich aber als traumatische V. durch äußere Gewalteinwirkung. Die V. ist eine vollständige oder unvollständige, je nachdem die Gelenkflächen in gar keiner Berührung mehr miteinander stehen oder zum Teil noch miteinander zusammenhängen. Bei Verstauchung (Distorsio) sind die Gelenke voneinander abgewichen, aber durch die natürliche Zusammenziehung der Gelenkbänder und Muskeln von selbst wieder in die richtige Lage gebracht worden, so daß es sich nur um eine mehr oder minder starke Zerrung, auch wohl um teilweise Zerreißung einzelner Teile des Bandapparats etc. mit Bluterguß unter die Haut handelt. Kalte Umschläge, dann Ruhigstellung des Gelenks durch einen festen Verband auf einige Zeit, dann systematische Aufnahme der Bewegungen bringt sichere Heilung. An den Kugelgelenken (Schulter, Hüfte) ist die V. meist eine vollständige, an den Scharniergelenken (Fuß, Knie, Ellbogen) meist eine unvollständige. Man erkennt eine V. an der fehlenden oder wenigstens sehr verringerten Beweglichkeit des verrenkten Gliedes, besonders aber an von außen sichtbaren oder fühlbaren anatomischen Veränderungen. In frischen Fällen sind Geschwulst, Entzündung, Blutergießung und heftige Schmerzen in der Umgebung des Gelenks vorhanden. Bei alten Leuten sind Verrenkungen seltener, weil die Gelenkenden der brüchig gewordenen Knochen eher abbrechen als ausweichen. Bei vollständiger V. besteht regelmäßig ein Einriß in die Gelenkkapsel, aus dem im Moment der V. der Gelenkkopf herausschlüpfte; je stärker die auf das Gelenk einwirkende Gewalt war, um so ausgedehnter kommen Zerreißungen der umliegenden Weichteile, Muskeln, Nerven und Gefäße vor (komplizierte V.). Erste und Hauptaufgabe der Behandlung ist die Einrichtung (Einrenkung, Repositio) des Gliedes durch den Arzt, die so schleunig wie möglich geschehen muß, weil sie dann leichter zu bewerkstelligen und weniger schmerzhaft ist, und weil vollständige Heilung dann eher zu erwarten steht. Nach der Einrichtung wird ein Verband angelegt, der das betroffene Glied in der richtigen Lage hält und vorzeitige Bewegung hindert. Ist die starke Kontraktion der Muskeln der Einrichtung hinderlich, so muß, namentlich bei muskelkräftigen Männern, die Einrichtung in der Narkose, in der die Muskelspannung nachläßt, ausgeführt werden. Ist die Reposition[97] bald nach der Verletzung unterblieben, so heilen die Risse der Gelenkkapsel sowie der den ausgetretenen Gelenkkopf umgebenden Weichteile; liegt der Oberarm oder Oberschenkel dem Schulterblatt oder Hüftbein fest an, so bildet sich mittlerweile eine neue Gelenkgrube und sogar mit der Zeit ein erträglicher Grad von Brauchbarkeit aus. Die spätere Einrichtung derartiger veralteter Verrenkungen erfordert ungleich größere Kraft, Übung und Vorsicht als die frischen Fälle; oft bleibt sie trotzdem erfolglos. Tritt eine V. an demselben Gelenk auf gleiche Weise zum zweitenmal ein, so kann, was übrigens noch aus andern Gründen möglich ist, der Riß in der Gelenkkapsel nicht wieder zusammenheilen; alsdann wird, da die Gelenkkapsel nur an jener Stelle keinen Widerstand mehr leistet, das betreffende Glied (meist ist es der Arm) sich bei einer bestimmten Bewegung immer wieder verrenken, allerdings auch immer wieder leicht eingerenkt werden (habituelle V.). Vgl. Hoffa, Lehrbuch der Frakturen und Luxationen (4. Aufl., Stuttg. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 97-98.
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