Heilung

[80] Heilung einer Krankheit, mehr oder weniger schnelles, meist allmähliches Nachlassen der bei einem Kranken beobachteten Krankheitssymptome bis zu deren völligem Verschwinden, d. h. bis zur Rückkehr der Gesundheit. Hiernach ist die H. sowohl ein passiver Begriff: das Heilwerden, als auch ein aktiver Begriff: das Heilmachen, das Bewirken der Genesung; es gilt dies von äußern wie von innern Krankheiten.

Der erstere Begriff entspricht der Naturheilung oder Selbstheilung (sanatio spontanea), die hervorgeht aus einem dem Organismus innewohnenden Streben, jede Störung auszugleichen und die normalen Verhältnisse wiederherzustellen. So wirft der Kehlkopf eindringende Fremdkörper mit Hilfe energischer Reflexbewegungen (Husten) wieder aus, die durch den vom Fremdkörper selbst bewirkten Reiz ausgelöst wurden, ebenso preßt die Bindehaut Fremdkörper, die zwischen sie und den Augapfel gerieten, wieder aus. Kann der Fremdkörper nicht ausgestoßen werden, wie z. B. eine in dickes Muskelfleisch geratene Gewehrkugel, so schließt sie sich durch Bildung einer bindegewebigen Kapsel ab und wird so für den Organismus unschädlich. In ähnlicher Weise können sich entzündliche Prozesse, bei denen es schon zur Bildung von (Eiter-) Herden kam, zurückbilden, indem die Flüssigkeit resorbiert wird und das Zentrum des Herdes verkalkt. So findet man zuweilen bei Sektionen in den Lungen verkalkte, stecknadelkopf- bis erbsengroße und noch größere Herde dieser Art, in denen man Tuberkelbazillen nachweisen konnte, ein Zeichen, daß man es mit spontaner H. der Tuberkulose zu tun hatte. Auch Parasiten, wie z. B. Trichinen, können auf dem Wege der Einkapselung unschädlich gemacht werden. Hat der Körper chemische, ihm feindliche Stoffe aufgenommen, die nicht sofort töten, so werden diese Stoffe zunächst in den Körperflüssigkeiten verdünnt und alsdann im Körper in andre mehr oder weniger unschädliche Verbindungen umgesetzt und[80] dann rasch oder allmählich ausgeschieden. Besonders bedeutungsvoll sind jene Schutzvorrichtungen des Organismus, durch die einem Eindringen körperfremder Organismen, also vor allem der krankheiterregenden Bakterien entgegengewirkt wird; durch komplizierte, der jeweiligen Art der Krankheitserreger entsprechende Stoffe werden letztere zur Abtötung und Auflösung gebracht, ihre Gifte neutralisiert und häufig eine langdauernde Immunität des geheilten Organismus erzielt (s. Immunität).

Auch bei Verletzungen kommt Naturheilung zustande. War z. B. eine Ader zerschnitten, und ist der ausfließende Blut strom nicht zu stark, so gerinnt alsbald das vor Gefäßöffnung befindliche ausgeflossene Blut, und sind sonst die Verhältnisse günstig (ruhige Lage des verletzten Gliedes, z. B. wenn der Verletzte ohnmächtig ist, wobei dann auch die herabgesetzte Herzkraft die Gerinnung begünstigt), so pflanzt sich bald die Gerinnung in das durchschnittene Gefäß, dieses verschließend, fort, und die Blutung steht. Die Blutversorgung des peripheren Abschnittes geht dann auf Umwegen durch den Kollateral- oder Seitenkreislauf vor sich, d. h. durch Seitenäste des zentralen Gefäßteiles, die mit Seitenästen des peripheren Gefäßabschnittes in Verbindung stehen und sich nun entsprechend erweitern. Bei der H. von Wunden unterscheidet man eine H. per primam und eine H. per secundam intentionem, ein schwer zu übersetzen der (»durch die erste, bez. zweite Anstrengung der Natur«) und wenig zutreffender Ausdruck, der besser durch die alten Bezeichnungen des Celsus: per agglutinationem (durch Verklebung) und per suppurationem (durch Eiterung) ersetzt wurde.

Der aktive Begriff der H., das Heilmachen, die Kunstheilung (sanatio artificialis), umfaßt alle Mittel und Wege, durch die der Arzt die Gesundung des Kranken erstrebt (therapeutisches Heilverfahren im weitesten Sinne). In erster Linie paßt der Arzt sein Verfahren dem Vorbild der Natur an, d. h. er sucht Fremdkörper zu entfernen, Gifte, die er nicht mehr aus dem Körper (durch Magenpumpe, Brechmittel) herauszubefördern vermag, zu neutralisieren, blutende Gefäße zu verschließen etc. Ferner sucht der Arzt die mächtigen Heilkräfte, die bei vielen Krankheiten schon allein in der Darbietung reiner Luft und reichlichem Licht (Klimatotherapie, Lichttherapie), sorgfältig der Erkrankung angepaßter Nahrung (Diätetik, Ernährungstherapie) zur H. führen können, in methodischer Weise nutzbar zu machen. Daran schließt sich die Anwendung von Wasser und Mineralwässern innerlich und äußerlich (Wasserkuren, Hydrotherapie), die Massage, die Heilgymnastik, die Elektrotherapie. Dieses große Gebiet der physikalisch-diätetischen Heilmethoden durch exakte Forschung ausgebaut und mehr und mehr zielbewußt an gewendet zu haben, ist ganz besonders ein Verdienst der wissenschaftlichen Medizin der letzten Jahrzehnte. Ein Teil dieser Methoden, namentlich die Behandlung mit Wasser, wird von manchem als Naturheilverfahren (s. d.) in einen Gegensatz zu den übrigen Heilmethoden gebracht und die Forderung aufgestellt, daß nur diese »von Natur gebotenen« Heilmittel Anwendung finden sollten; während die weitaus größte Mehrzahl der Ärzte zur H. vieler Kranker Arzneien nicht entbehren zu können glaubt (Pharmakotherapie). Wie sehr die genaue Erforschung und Nachahmung der Naturheilung der Kunstheilung zustatten kommt, zeigen die Erfolge der Serumbehandlung (s. Serumtherapie und Immunität), bei der die Abwehr- und Schutzvorrichtungen, die dem Organismus gegen krankheiterregende Bakterien von der Natur verliehen sind, planmäßig Anwendung finden.

In dem Kunstheilverfahren unterscheiden sich bezüglich der Menge der zu verordnenden Arzneien, nicht bezüglich der Art der Arzneien, zwei Richtungen scharf voneinander: die Allopathen und die Homöopathen (s. Homöopathie). Bezüglich einer Würdigung der verschiedenen Heilmethoden kann man etwa folgendes sagen: Ein heute auf der Höhe der Wissenschaft stehender Arzt sucht zunächst, nach möglichst genau gestellter Diagnose, den Kranken in die äußern und innern Bedingungen zu versetzen, in denen er die Krankheit am leichtesten überstehen und in denen die verschiedenen Körperfunktionen möglichst wiederhergestellt werden (physiologisches Heilverfahren); hierzu wird sich der Arzt, soweit wie möglich und wenn zweckmäßig, natürlicher Mittel bedienen (kalte, warme Umschläge, Bäder etc.), er wird die Krankenkost (Diät) und die ganze Pflege (Schlafen, Wachen, Körperbewegung, ob aktive, ob passive, geistige Beschäftigung) genau regulieren und hervorstechende, gefahrdrohende Symptome durch entsprechende Arzneien und andre Maßnahmen (symptomatisches Heilverfahren) bekämpfen. Vor allem aber wird ein kausales Heilverfahren einzuleiten sein, d. h. es muß, wo es möglich ist, die Ursache der Erkrankung selbst bekämpft, bez. entfernt werden. Freilich stehen unmittelbar kausal wirkende Maßnahmen nur bei einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Erkrankungen zur Verfügung. Es gibt also nach Vorstehendem nur eine Heilmethode, die den Anspruch erheben kann, eine rationelle zu sein, die nämlich, welche die Mittel nicht nach einem vorher zurecht gemachten System, sondern nur nach der Art der Krankheit und nach der Individualität des Kranken wählt. Niemals wird sich ohne Nachteil die vielgestaltige menschliche Natur in ein System zwingen lassen, und am allerwenigsten sollte der Arzt es wagen, diesen Versuch zu machen. Die rationelle, individualisierende Heilmethode geht daher von einer physiologischen Grundlage aus, sie entnimmt ihre Mittel sowohl dem Naturheilverfahren wie dem Arzneischatz, ordnet sorgfältig die Diät und zwar sowohl in körperlicher wie in geistiger Hinsicht und sucht überhaupt den Kranken stets in die für die H. vorteilhaftesten Bedingungen zu versetzen. Über ärztliche Kunstfehler s. d.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 80-81.
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