Zeitsinn

[872] Zeitsinn, als Gegenstück zum Augenmaß die Fähigkeit der unmittelbaren (subjektiven) Zeitschätzung. Wir sind imstande, auch ohne Anwendung objektiver Hilfsmittel (Uhr etc.) Zeitabschnitte zu vergleichen und Aussagen über ihre Gleichheit oder Ungleichheit sowie im letztern Falle wieder über ihr relatives Größer- oder Kleinersein zu bilden. Dabei stimmt jedoch unser auf den unmittelbaren Eindruck der Vorgänge oder auf Erinnerung gegründetes Urteil häufig, wie die alltägliche Erfahrung lehrt, durchaus nicht mit den Angaben zeitmessender Instrumente überein. Bald dehnen sich Minuten zu Stunden, bald eilen uns die letztern, ja die Tage und Wochen wie im Fluge vorüber; für das Kind ist das Jahr ein langer, schier unübersehbarer Zeitraum, dem Greis erscheinen Jahrzehnte als eine relativ kurze Spanne Zeit etc. Daraus geht hervor, daß wir einen untrüglichen Z. nicht besitzen, daß vielmehr unsre Zeitbeurteilung von gewissen Nebenumständen modifiziert wird, und es entsteht für die Psychologie die Aufgabe, diese und die Art ihres Einflusses näher zu bestimmen. Solche Umstände sind in erster Linie die Art der Ausfüllung der Zeit, sodann die Zeitlage (ob Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft). Zeiträume mit wenig bemerkenswertem Inhalt erscheinen im allgemeinen in der Gegenwart als lang (Langeweile), in der Erinnerung jedoch als kurz, Zeiträume mit wechselndem, reichem Inhalt gerade umgekehrt (z. B. der Traum). Bei lebhafter, auf ein zukünftiges Ereignis gerichteter Erwartung vergeht uns die Zeit bis zu dessen Eintritt langsam, bei Gleichgültigkeit, oder wenn die Aufmerksamkeit anderweitig beschäftigt ist, rascher. Je weiter ein und derselbe Zeitraum in der Vergangenheit zurückliegt, desto kürzer erscheint er uns (also eine Art perspektivischer Verkürzung). Die experimentelle Untersuchung des Zeitsinns hat gezeigt, daß unsre Fähigkeit zur Auffassung von Zeitunterschieden eine untere Grenze hat (Zeitschwelle), Gehörs-, Tast-, Gesichtsempfindungen, die rascher als nach 0,016, bez. 0,027,0,043 Sekunde aufeinanderfolgen, können nicht mehr unterschieden werden, umgekehrt sind wir nicht mehr imstande, Eindrücke, die nach 11/2-2 Sekunden einander folgen, zu einer fortlaufenden Zeitreihe unmittelbar zusammenzufassen. Der Ursprung der Zeitvorstellung ist im Bereiche des Tast- und Gehörssinnes zu suchen; die Empfindungen, die durch die rhythmischen Körperbewegungen (z. B. beim Gehen) erregt werden, sowie in gleichen Zwischenräumen folgende Taktschläge genügen für sich allein, um die Vorstellung einer kontinuierlichen Zeitfolge entstehen zu lassen. Ihre sinnliche Grundlage hat diese (nach Wundt) in den abwechselnden Gefühlen der Erwartung und Befriedigung (Spannung und Lösung), die sich zwischen die periodisch wiederkehrenden Taktschläge (oder Eindrücke überhaupt) einschieben. Daraus erhellt zugleich, daß die Neigung zur rhythmischen Zeiteinteilung im Wesen des Zeitsinns begründet ist; in der Tat lehrt die Erfahrung, daß auch ganz gleichmäßige Taktschläge (je nach ihrer Geschwindigkeit) von unserm Bewußtsein ganz unwillkürlich nach dem 2/4-, 3/4- oder 4/4-Takt eingeteilt werden, und daß wir eine längere Folge von Eindrücken in einer Vorstellung zusammenfassen können, wenn sie rhythmisch gegliedert sind. Die Untersuchung des Zeitgedächtnisses hat das merkwürdige Resultat geliefert, daß eine Normalzeit von 0,5–0,6 Sekunde nach dem Gedächtnis richtig reproduziert, eine kleinere im allgemeinen über-, eine größere unterschätzt wird.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 872.
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