Gehen

[466] Gehen. Die Mechanik des Gehens kann von sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden, Am nächsten liegt es, einen gehenden Menschen zu beobachten, festzustellen, wie er das Bein aufsetzt, wie er es abstößt, welche Schwankungen dabei der Rumpf in horizontaler sowohl als vertikaler Richtung macht, u. dgl. m. Eine tiefere Betrachtung geht von der Überlegung aus, daß das G. aus dem Zusammenwirken einer großen Anzahl von Apparaten hervorgeht, und sucht die Beantwortung der zahlreichen Detailfragen in mathematischer Form zu erledigen. Die einzelnen Mechanismen, aus denen sich der Gang zusammensetzt, werden hierbei vom anatomischen und physiologischen Standpunkt aus eingehend untersucht. Diese Betrachtungsweise ist zu speziell, als daß sie hier näher berücksichtigt werden könnte. Die einfache Beobachtung des Ganzen wird sehr wesentlich unterstützt durch die Benutzung der Momentphotographie, wie sie besonders von Marey und von Muybridge, neuerdings von Braune und Fischer angewendet worden ist (s. Chronophotographie). Beim G. wird der Körper durch die abwechselnde Tätigkeit beider Beine in horizontaler Richtung fortbewegt. Während das eine Bein (Stand-, Stützbein) mit vorgesetztem Fuß den Körper unterstützt, wickelt das andre (Hang-, Spielbein) seine Fußsohle vom Boden ab, erteilt dadurch dem Körper eine Beschleunigung nach vorn und bewegt sich dabei, im Kniegelenk leicht gebeugt, vorwärts. Hat sein Fuß den Boden wieder erreicht, so dient er zur Stütze, während das andre Bein dasselbe Spiel beginnt. Die Schwingung geschieht unter Anwendung eines Minimums an Muskelkraft nach den Pendelgesetzen, und deshalb besitzt der Mensch eine der Länge seiner Beine entsprechende Schrittdauer. Durch Anwendung von Muskeltätigkeit kann man diesen natürlichen Gang bis zu einem gewissen Grade modifizieren. Bei dem schnellen Gang wird die Vorwärtsbewegung der Beine durch Muskelaktion beschleunigt; es gelingt dies aber auch dadurch, daß man das schwingende Pendel durch stärkere Krümmung der Beine in den Knien und in der Hüfte verkürzt. Letzterer Gang entwickelt sich gewohnheitsmäßig bei Individuen, die viel und rasch gehen, Boten, Barbieren etc. Außer der Schrittdauer ist für die Geschwindigkeit des Ganges die Schrittlänge maßgebend; sie ist wesentlich von denselben Momenten abhängig, von dem die Dauer des Schrittes abhängt; längere Beine haben größere Schrittdauer, aber auch größere Schrittlänge. Der Gang des Menschen ist wegen der geringen Stützfläche für den Schwerpunkt unsicher und muß in der Kindheit mühsam erlernt werden. – Der Gang der Vierfüßer ist komplizierter. Im Schritt wird bei ihnen erst der eine Vorderfuß, dann der diagonal gestellte Hinterfuß, hierauf der andre Vorderfuß und endlich der letzte Hinterfuß bewegt. Beim Trab treten die diagonalen Beine in gleichzeitige Tätigkeit, also das rechte Vorderbein mit dem linken Hinterbein zusammen, das linke Vorderbein mit dem rechten Hinterbein. Beim Paß werden die beiden Extremitäten einer Seite gleichzeitig bewegt. Giraffen, Kamele, Elefanten gehen naturgemäß Paß. In gewissen Ländern, z. B. Südamerika, gewöhnt man den Pferden den Paß an, weil diese Gangart den Reiter weniger angreift. Vögel gehen schwerfällig (watschelnd) und bewegen sich meistens hüpfend vorwärts.

Als wesentliche Erweiterung der aktiven Fortbewegungsarten des Menschen erscheint das G. auf dem Wasser, bei dem sich ausgedehnte Möglichkeiten des Sports und Verkehrs bieten. Es haben sich damit unter andern beschäftigt v. Szábel, Potts und Boyton, Großmann, in neuerer Zeit besonders Sommer in Gießen. Das Problem enthält nach letzterm vier Aufgaben: die Suspension des Körpers über der Wasseroberfläche, die Balancierung des vertikal auf dem Wasser stehenden Körpers, die aktive Fortbewegung und die willkürliche Änderung der Richtung. Jedes Teilproblem muß so gelöst werden, daß die andern darunter nicht leiden, sondern dadurch gefördert werden (vgl. Sommer, Das Problem des Gehens auf dem Wasser, Leipz. 1902). Die Suspension geschieht durch Schwimmkörper, die bei Sommers Apparaten aus Holz mit Querschotten, nach unten spitzwinklig, gebaut sind, bei einer Basis von ca. 20–25 cm, Höhe von ca. 25–30 cm und Länge von 2 m, wobei die Tragfähigkeit jedes einzelnen ca. 50–75 kg beträgt. Die Balancierung, d. h. das ruhige Feststehen auf diesen Schwimmkörpern, hat sich bei Verwendung von Stützen nach regelrechter Übung als sehr leicht und sicher erwiesen. Die Schwierigkeit der aktiven Fortbewegung bestand darin, daß jeder Fuß, bez. Schwimmkörper abwechselnd zum Feststehen oder Vorschreiten benutzt werden sollte. Es muß also im erstern Falle möglichster Widerstand, im zweiten größte Gleitfähigkeit erzielt werden. Dies geschieht bet spitzwinkligem Querschnitt, der sehr wenig Widerstand bedingt, durch Klappen, die an einem Ausleger oder an der Wand der Schwimmkörper angebracht sind und sich bei dem Vorschreiten längs legen, beim Feststehen des Beines sich dagegen quer stellen und Widerstand bieten. Zu Wendungen ist ein Steuerruder nötig, das zweckmäßig mit den Handhaben der Stützen in Verbindung gesetzt wird. Beide Schwimmkörper[466] sind durch dünne Lederriemen miteinander verbunden. Mit Apparaten obiger Konstruktion ließ sich in ruhigem Wasser (Fluß) eine aktive Fortbewegung von ca. 45 cm in einer Sekunde erzielen, wobei die relativ noch schwere Bauart in Betracht kommt. Bei einer verbesserten Konstruktion wurde das Gewicht jedes Schwimmkörpers von 25 auf 17 kg ermäßigt, so daß vermutlich die Geschwindigkeit rasch steigen wird. Gelingt es, das Gewicht auf ca. 10 kg zuverringern, so wird ein Fortbewegungsmittel gewonnen sein, auf dem man sich mit beträchtlicher Schnelligkeit nach Belieben über Wasserflächen bewegen kann. Vgl. Borelli, De motu animalium (Rom 1680 u. ö., zuletzt Haag 1743); Wilhelm und Eduard Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge (Götting. 1836; hrsg. von Merkel und Fischer, Berl. 1894); Kollmann, Mechanik des menschlichen Körpers (Münch. 1874); Pettigrew, Ortsbewegung der Tiere (deutsch, Leipz. 1875); Marey, La machine animale (4. Aufl., Par. 1886) und Le mouvement (das. 1893); Fick, Spezielle Bewegungslehre, in Hermanns »Handbuch der Physiologie«, Bd. 1, Teil 2 (Leipz. 1879); O. Fischer, Der Gang des Menschen (das. 1895–1904, 6 Tle.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 466-467.
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