Fünfte Familie: Mäuse (Murina)

[342] Keine andere Abtheilung der Ordnung versteht es, so gründlich uns zu belehren, was Nager sind, als die, welche die Mäuse (Murina) umfaßt. Die Familie, welche neuerdings mit den beiden nächstfolgenden zu der Unterordnung der Mausnager (Murida) vereinigt wird, ist nicht bloß die an Sippen und Arten reichste, sondern auch bei weitem die verbreitetste, und, dank ihrer Anhänglichkeit an den Menschen, noch in steter Verbreitung begriffen, wenigstens was einzelne ihrer Arten anlangt. Ihre Mitglieder sind durchgängig kleine Gesellen; aber sie ersetzen durch ihre Anzahl, was den einzelnen an Größe abgeht, mehr als vollständig. Will man ein allgemeines Bild von der Gesammtheit geben, so kann man sagen, daß die spitze Schnauze, die großen schwarzen Augen, die breiten und hohlen, sehr spärlich behaarten Ohren, der lange, behaarte oder ebenso oft [342] nacktschuppige Schwanz und die zierlichen Beine mit schmalen, feinen, fünfzehigen Pfoten sowie ein kurzer, weicher Pelz unsere Familie kennzeichnen.


Geripp der Wanderratte. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp der Wanderratte. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Doch nähern sich in ihrer Gesammtgestaltung viele Mäuse anderen Familien der Ordnung: stachliches Grannenhaar erinnert an die Stachelschweine, echte Schwimmfüße, kurze Ohren und Beine an die Biber, dickbehaarten Schwanz an die Eichhörnchen usw. Mit solchen äußerlichen Abänderungen der allgemeinen Grundform steht der Bau des Gebisses mehr oder weniger im Einklange. Gewöhnlich sind die Nagezähne schmal und mehr dick als breit, mit scharfmeißlicher Schneide oder scharfer Spitze, an der Vorderseite glatt oder gewölbt, weiß oder gefärbt, auch wohl durch eine Längsrinne getheilt. Drei Backenzähne in jeder Reihe, welcher von vorn nach hinten an Größe abnehmen, bilden regelmäßig das übrige Gebiß, ihre Anzahl sinkt aber auch auf zwei herab oder steigt bis auf vier im Oberkiefer. Sie sind entweder schmelzhöckerig, mit getrennten Wurzeln oder quergefaltet oder seitlich eingekerbt. Viele schleifen sich durch das Kauen ab, und dann erscheint die Fläche eben oder mit Faltenzeichnung. 12 oder 13 Wirbel tragen Rippen, 3 bis 4 bilden das Kreuzbein, und 10 bis 36 den Schwanz. Bei einigen Arten kommen wohl auch Backentaschen vor, bei anderen fehlen sie gänzlich; bei diesen ist der Magen einfach, bei jenen stark eingeschnürt usw.

Die Mäuse sind Weltbürger, aber leider nicht im guten Sinne. Alle Erdtheile weisen Mitglieder aus dieser Familie auf, und jene glücklichen Inseln, welche bis jetzt noch von ihnen verschont blieben, werden im Laufe der Zeit sicher noch wenigstens von einer Art, deren Wanderlust schon gewaltige Erfolge erzielt hat, bevölkert werden. Die Mäuse bewohnen alle Gegenden und Klimate, ziehen zwar die Ebenen gemäßigter und wärmerer Länder dem rauhen Hochgebirge oder dem kalten Norden vor, findet sich aber doch so weit, als die Grenze des Pflanzenwuchses reicht, demzufolge auch noch in unmittelbarer Nähe des ewigen Schnees der Gebirge. Wohlbebaute Gegenden, Fruchtfelder, Pflanzungen bilden unbedingt ihre beliebtesten Aufenthaltsorte, sumpfige Strecken, Flußufer und Bäche bieten ihnen jedoch ebenfalls genug, und selbst dürre, trockene, mit wenig Gras und Buschwerk bewachsene Ebenen gewähren ihnen noch die Möglichkeit zu leben. Einige meiden die Nähe menschlicher Ansiedelungen, andere drängen sich dem Menschen als ungebetene Gäste auf und folgen ihm überall hin, wo er neue Wohnorte gründet, selbst über das Meer. Sie bevölkern Haus und Hof, Scheuer und Stall, Garten und Feld, Wiese und Wald, allerorten mit gefräßigem Zahne Schaden und Unheil anrichtend. Nur die wenigsten leben einzeln oder paarweise, die meisten lieben die Geselligkeit, und manche Arten wachsen zuweilen zu ungeheuren Scharen an. Bei fast allen ist die Vermehrung eine ganz außerordentliche; denn die Anzahl der Jungen eines einzigen Wurfs schwankt zwischen sechs und einundzwanzig, und die allermeisten pflanzen sich mehrmals im Jahre, ja selbst im Winter fort.

Die Mäuse sind jeder Weise geeignet, den Menschen zu plagen und zu quälen, und ihre Eigenschaften scheinen sie besonders hierzu zu befähigen. Gewandt und behend in ihren Bewegungen, [343] können sie vortrefflich laufen, springen, klettern, schwimmen, verstehen es, durch die engsten Oeffnungen sich zu zwängen, oder, wenn sie keine Zugänge finden, mit ihrem scharfen Gebisse solche Wege zu eröffnen. Sie sind ziemlich klug und vorsichtig, ebenso aber auch dreist, frech, unverschämt, listig und muthig, ihre Sinne durchgehends fein, obschon Geruch und Gehör die übrigen bei weitem übertreffen. Ihre Nahrung besteht aus allen eßbaren Stoffen des Pflanzen- und Thierreichs. Samen, Früchte, Wurzeln, Rinde, Kräuter, Gras, Blüten, welche ihre natürliche Nahrung bilden, werden nicht minder gern von ihnen verzehrt als Kerbthiere, Fleisch, Fett, Blut und Milch, Butter und Käse, Haut und Knochen, und was sie nicht fressen können, zernagen und zerbeißen sie wenigstens, so Papier und Holz. Wasser trinken sie im allgemeinen nur selten; dagegen sind sie äußerst lüstern auf alle nahrungsreicheren Flüssigkeiten und verstehen es, derselben in der listigsten Weise sich zu bemächtigen. Dabei verwüsten sie regelmäßig weit mehr, als sie verzehren, und werden hierdurch zu den allerunangenehmsten Feinden des Menschen, welche nothwendigerweise dessen ganzen Haß herausbeschwören und sogar die Grausamkeiten, welche er sich bei ihrer Vertilgung zu Schulden kommen läßt, wenn auch nicht verzeihlich, so doch erklärlich machen. Nur sehr wenige sind harmlose, unschädliche Thiere, und haben wegen ihrer zierlichen Gestalt, der Anmuth ihrer Bewegungen und ihres ansprechenden Wesens Gnade vor unseren Augen gefunden. Hierher gehören namentlich auch die Baukünstler unter dieser Familie, welche die kunstreichsten Nester unter allen Säugethieren überhaupt anlegen und durch ihre geringe Anzahl und den unbedeutenden Nahrungsverbrauch wenig lästig werden, während andere, welche in ihrer Weise auch Baukünstler sind und sich größere oder kleinere Höhlen anlegen, gerade hierdurch sich verhaßt machen. Einige Arten, welche die kälteren und gemäßigten Gegenden bewohnen, halten einen Winterschlaf und tragen vorher Nahrungsvorräthe ein; andere unternehmen zeitweilig in ungeheuren Scharen Wanderungen, welche ihnen aber gewöhnlich verderblich werden.

Für die Gefangenschaft eignen sich wenige Arten; denn bloß der geringste Theil aller Mäuse erfreut durch leichte Zähmbarkeit und Verträglichkeit mit anderen seiner Art. Die übrigen bleiben auch im Käfige unangenehme, unverträgliche, bissige Geschöpfe, welche die ihnen gewidmete Freundschaft und Pflege schlecht vergelten. Eigentlichen Nutzen gewähren die Mäuse nie; denn wenn man auch von dieser oder jener Art das Fell benutzt oder selbst das Fleisch ißt, kommt beides doch nicht im Betracht gegen den außerordentlichen Schaden, welchen die Gesammtheit der Familie anrichtet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 342-344.
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