Einbildungskraft

[541] Einbildungskraft (Phantasie), das Vermögen der Seele, sich von einem Gegenstande, welcher während der Thätigkeit der E. nicht sinnlich wahrgenommen wird, ein Bild zu machen. Dies Vermögen ist zunächst ein unmittelbares u. beruht auf Empfindungen, welche zu den sog. Anschauungen a priori (Raum u. Zeit) führen. Die E. in diesem (metaphysischem) Sinne ist die nothwendige Voraussetzung, unter welcher sich überhaupt die durch die Sinne vermittelte Empfindung zur Wahrnehmung gestaltet. Die mittelbare Thätigkeit der E. erstreckt sich auf die Wiedererzeugung vergangener Wahrnehmungen in der Seele entweder so, daß das Bild der ursprünglichen Wahrnehmung vollkommen gleicht (reproductive E.), od. so, daß durch die Vermischung verschiedener Wahrnehmungen ein in seiner Zusammensetzung neues Bild entsteht (productive E.). Im ersteren Falle fällt die Thätigkeit der E. mit dem Begriff der Erinnerung zusammen, indem sie die unbewußt in der Seele aufbewahrten Vorstellungen von Neuem zum Bewußtsein bringt; im zweiten Falle tritt die Combinationsfähigkeit der Seele hinzu, um entweder in den Theilen des Bildes eine Veränderung der ursprünglichen Ordnung herbeizuführen od. Theile verschiedener Bilder zu einem neuen Bilde zu vereinigen od. aber den Maßstab, unter welchem das Bild ursprünglich wahrgenommen wurde, zu vergrößern, respective zu verkleinern. Ist die productive E. eine ungeregelte, nicht von dem Willen, sondern von Stimmungen u. Gefühlen abhängige, so erscheint sie als ein durch Ideenassociation bedingtes Spiel, als Träumerei, wie bei völlig bewußtlosem Zustande als Traum; übt aber das Denken Einfluß auf die E., so ordnen sich die Bilder nach der in gewissen Grenzen gehaltenen Willkühr zu Systemen u. zusammenhängenden Gruppen. Die absolute Beherrschung der E. durch das Denken, der consequente Bezug derselben auf eine Grundanschauung findet in den Wissenschaften (erfindende Thätigkeit) statt, während in den Schönen Künsten (dichtende Thätigkeit) die C. freieren Spielraum hat. Da die Schöpfungen der Kunst in dem Gefühle wurzeln u. von diesem ihr Leben empfangen, so muß das Denken dem Zuge des Gefühles folgen u. die das Kunstwerk zusammenhaltende Grundidee wird, in Bilder gehüllt, von der Seele unmerklich aufgenommen u. festgehalten. Je unabhängiger die Kunst von der Materie ist, desto freier ist auch das Spiel der E. Den[541] höchsten Grad der Freiheit erlangt es in der Dichtkunst.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 541-542.
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