Organismus

[349] Organismus, zunächst ein aus Organen bestehender Naturkörper. So wie nämlich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Organ, nach welcher es ein Werkzeug bezeichnet, durch den Sprachgebrauch dahin beschränktworden ist, daß man darunter den Theil eines lebendigen Naturwesens versteht, insofern derselbe zur Erhaltung u. Fortsetzung dieses Lebens mit thätig ist, so fällt auch die Bedeutung des Wortes O. mit dem Begriff des lebendigen Körpers zusammen. Die äußeren Merkmale des O. sind daher dieselben, wie die, durch welche der lebendige Körper sich von dem unbelebten unterscheidet (vgl. Leben); die letzteren heißen daher auch unorganische. Eine Sacherklärung des O. ist bis jetzt eben so wenig gelungen, als eine Sacherklärung dessen, was Leben ist. Wenn man sich zu diesem Zwecke früher fast durchgehends einfach auf besondere organische u. organisirende Kräft berufen hat, so bezeichnet die Annahme solcher Kräfte eigentlich nur den Fragepunkt, ohne eine Einsicht in dessen Beantwortung darzubieten; u. wenn sich andererseits auch zeigen ließe, daß in dem O. keine anderen Kräfte u. Gesetze wirken, als die allgemeinen mechanischen, physikalischen u. chemischen, nur unter specifisch eigenthümlichen Bedingungen u. in specifisch bestimmten Verbindungen,[349] so enthält eben die Frage nach der Art, wie die Bedingungen einer so bestimmten Verbindung dargeboten werden u. in welcher Weise dadurch die dem O. eigenthümliche Wirkungsart derselben herbeigeführt wird, ein bis jetzt unaufgelöstes Problem. Es ist daher nur möglich, eine Namenerklärung des O. zu geben, u. der Anknüpfungspunkt derselben liegt in der inneren Zweckmäßigkeit des organischen Lebens, vermöge deren die Gesammterscheinung desselben von der Thätigkeit (der Functionen) der einzelnen Organe u. die Thätigkeit jedes einzelnen von der aller übrigen getragen wird. Kant definirte daher den O. als ein Naturwesen, in welchem Alles Mittel u. Alles Zweck ist; diese allgemeine, wenn auch nach der Wichtigkeit einzelner Organe mannigfaltig abgestufte Wechselwirkung, sammt der Selbstthätigkeit, mit welcher der O. die Bedingungen seiner Entwickelung u. seiner Erhaltung sich aneignet, wo sie sich ihm darbieten (Assimilation), sich bis zu einem gewissen Grade gegen schädliche Einwirkungen vertheidigt u. erlittene Beschädigungen u. Störungen ausgleicht, ist es, welche ihn wesentlich von einem bloßen Mechanismus unterscheidet. Wenn wegen der letzteren Eigenthümlichkeit Kant aber ferner sagen zu dürfen glaubte, ein O. sei ein Naturwesen, welches von sich selbst Ursache u. Wirkung sei (eine Definition, deren sich die spätere Naturphilosophie oft mit Vorliebe bedient hat), so liegt darin eine unhaltbare Übertreibung; denn in dem Umkreis der dem Menschen zugänglichen Erfahrung kommt kein O. vor, welcher sich ohne Weiteres von selbst erzeugt; die Bedingungen des organischen Lebens sind vielmehr um so mannigfaltiger u. enger begrenzt, je höher u. vollkommener die Organisation ist; u. alles organische Leben bleibt entweder unentwickelt od. vergeht, wenn diese Bedingungen von vorn herein fehlen, od. ihm entzogen werden. Nach Analogie der Merkmale individueller organischer Naturwesen bedient man sich nun der Worte O., organisch, organisiren häufig auf Gebieten, wo eine ähnliche, innerlich zweckmäßige Verknüpfung u. Wechselwirkung der Bestandtheile eines zusammengesetzten Ganzen nachweisbar ist od. vorausgesetzt u. gefordert wird (Organisation). Man betrachtet daher nicht nur die Natur im Ganzen u. Großen als Einen O., sondern man überträgt das Wort auch auf menschliche Einrichtungen u. Thätigkeiten. So spricht man von einem O. des Staatslebens wegen der Wechselbeziehung seiner Mitglieder zu dem Gesammtzwecke, in welchem zugleich die individuellen Interessen Schutz u. Befriedigung finden od. wenigstens finden sollen; von einem O. der Wissenschaften, wegen der gegenseitigen Unterstützung, welche die Resultate jeder einzelnen den übrigen u. somit der menschlichen Gesammterkenntniß darbieten; von organischen Gesetzen, welche größere Gebiete des öffentlichen Lebens, die Verfassung, die Rechtspflege, die Verwaltung, nach durchgreifenden Grundsätzen regeln; von einem O. des Sprach baues, insofern das Unwillkürliche, von keinem einzelnen Individuum Ausgehende in der Entstehung der Sprache u. der Gliederung der Sprachformen dennoch dem Zwecke der Gedankenmittheilung durch die Sprache entspricht etc. Indessen die Analogien, um deren Willen man sich berechtigt findet, das Wort O. anzuwenden, werden in vielen Fällen auch schwankend u. unklar, u. daraus erklärt sich, daß diese Bezeichnungen oft angewendet werden, wo man, in Ermangelung scharf u. genau bestimmter Begriffe, doch etwas Tiefsinniges gesagt haben möchte.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 12. Altenburg 1861, S. 349-350.
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