Angenehm

[53] Angenehm. (Schöne Künste)

Man hört überall sagen, das Angenehme sey der Zwek aller Werke der schönen Künste. Dieses ist eben so wahr, als wenn man sagte: der Wolklang sey der Zwek der Dichtkunst, oder die Harmonie der Zwek der Musik. Angenehm muß jedes Werk dieser Künste seyn, weil man es sonst nicht achten würde: aber diese Eigenschaft macht sein Wesen nicht aus; sie gehört so dazu, wie das gute Ansehen, die Reinlichkeit und Annehmlichkeit zu einem Gebäude gehören, dessen Wesen in etwas ganz anderm besteht.

Soll der Künstler nicht durch unrichtige Vorstellungen über das Wesen der schönen Künste auf Abwege gerathen, so muß er sich über den Gebrauch des Angenehmen von der Natur unterrichten lassen, der großen Lehrerin aller Künstler. Sie arbeitet allemal auf Vollkommenheit; aber sie giebt ihr die Annehmlichkeit zur beständigen Gefährtinn. Jedes Werk der Natur hat seine Vollkommenheit, wodurch es das ist, was es hat seyn sollen, und seine Annehmlichkeit, wodurch es die Sinnen reizt: so muß jedes Werk der schönen Künste seyn, die eigentlich durch Einmischung des Angenehmen in das Nützliche entstanden sind.1 Jedem ihrer Werke muß etwas wichtiges übrig bleiben, wenn ihm alles Angenehme, was es durch die Kunst an sich hat, benommen wird. Das Gedicht, dem nichts übrig bleibet, wenn die Harmonie des Verses, die Schönheit des Ausdruks, das Kleid der Bilder, davon genommen werden, ist kein lobwürdiges Werk.

Dieses ist der wahre Gesichtspunkt, aus welchem jeder Künstler das Angenehme betrachten muß. Hat er das Wesentliche als ein weiser und verständiger Mann fest gesetzt, so sehe er sich nach dem Angenehmen um, womit er das Nützliche als mit einem schönen Gewand umgeben könne. Hat er einen Gegenstand gefunden, der wichtig genug ist, die Aufmerksamkeit verständiger Menschen zu beschäfftigen, so suche er ihm alle Annehmlichkeiten zu geben, die ihn der Vorstellungskraft reizender machen können. So können wir uns das Verfahren der Natur vorstellen. Sie hat alle Theile des menschlichen Körpers zu ihrem Gebrauch so vollkommen gebildet, daß aus dem Ganzen die bewundrungswürdige Maschine entstehen konnte, die der Geist zu seinem Dienste nöthig hatte: denn hat sie alle diese Theile in eine angenehme Form vereiniget, selbige mit einer, alles lieblich zusammen bindenden Haut, überzogen, und auch diese mit angenehmen Farben und einem reizenden Wesen verschiedentlich überstreut.

Also ist die Erforschung und genaue Kenntniß des Angenehmen zwar ein wesentlicher Theil der Kunst, aber nicht der einzige. Der Künstler muß zuerst ein Mann von Verstand, ein weiser und guter Mann, und hernach eben so nothwendig ein Mann von Geschmak seyn. Er hat zwey Wege, die Kenntniß des Angenehmen zu erwerben, und beyde sind ihm nothwendig. Was die feinesten Kunstrichter, vom Aristoteles an, bis auf itzt, von dem, was angenehm oder unangenehm ist, bemerkt haben, mache er sich bekannt, und nehme seine eigene Erfahrung noch dazu: hernach bemühe er sich, eine Theorie des Angenehmen zu machen, [53] die bey dem Wankenden und Widersprechenden der Beobachtungen ihm zu Hülfe komme; die entweder seine Zweifel rechtfertige, oder auflöse.

Zum Fundament dieser Theorie bemerke er, daß ein Gegenstand dadurch angenehm wird, daß er die Würksamkeit der Seele reizt, und daß dieses auf zweyerley Art geschieht; entweder durch die Vorstellungskraft, oder durch die Begehrungskraft. Bey näherer Untersuchung dieser beyden Gattungen der Würksamkeit wird er die Arten derjenigen Eigenschaften der Dinge entdeken, die angenehm sind. So wird er finden, daß die Vorstellungskraft gereizt wird durch Vollkommenheit, durch Ordnung, durch Deutlichkeit, durch Wahrheit, durch Schönheit, durch Neuigkeit und verschiedene andere ästhetische Eigenschaften; die Begehrungskraft aber durch das Affektreiche, durch das Zärtliche, durch das Rührende, durch das Feyerliche, durch das Große, durch das Wunderbare, durch das Erhabene und andre Eigenschaften dieser Art, über welche an sehr vielen Stellen dieses Werks nähere Untersuchungen angestellt worden, die zusammen genommen eine, wiewol unvollkommene Theorie des Angenehmen ausmachen.

1S. Künste.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 53-54.
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