Gewand

[476] Gewand. (Zeichnende Künste)

Mit diesem Wort drükt man überhaupt alles aus, was in zeichnenden Künsten zur Bekleidung so wol der Figuren, als auch lebloser Dinge gebraucht wird, und was man in der Kunstsprache gar ofte mit dem französischen Wort Drapperie bezeichnet. Die gute Bekleidung der Figuren und die geschikte Behandlung der, auch bey leblosen Dingen, angebrachten Gewänder, macht einen wichtigen und schweeren Theil der Kunst des Zeichners und des Mahlers aus. Schon in der Natur selbst trägt das Gewand, so wol durch seine Form, als durch die Farbe viel zum guten Ansehen der Sachen bey; aber noch weit mehr in den Werken der Kunst, wo auf die Gruppirung, [476] auf die Haltung der Gemählde, auf das Helle und Dunkele, und auf die Harmonie der Farben ungemein viel ankömmt.

Wenn gleich die Anständigkeit es zuließe, in historischen Gemählden oder Portraiten die Figuren ganz nakend zu mahlen, so würde der Künstler andrer Vortheile halber das Gewand dennoch einführen, weil es ihm zur Zusammensetzung und zu vielen, der Vollkommenheit eines Gemähldes unentbehrlichen Dingen, große Dienste leistet.

Nichts ist geschikter einer Gruppe von Personen die beste mögliche Form zu geben, als das Gewand, womit man das Ekigte der Gruppen abrunden, die Lüken ausfüllen und das Unschikliche darin bedeken kann. Und da man bis auf einen gewissen Grad die Form des Gewandes in seiner Gewalt hat, so kann man dadurch allemal dem Bau einer Gruppe die beste Form geben. Bey gewissen Gelegenheiten ist es schlechterdings das einzige Mittel, die Sachen in eine angenehme Form zusammen zu bauen. Man sieht bisweilen Monumente, dergleichen Verstorbenen zu Ehren in Kirchen gesetzt werden, wo die wenigen Sachen, etwa ein Sarg, darauf oder herum liegende Wapen, und andre bedeutende Dinge, vermittelst eines geschikt übergeworfenen Gewandes, in die schönste Masse vereiniget werden.

Was für eine angenehme Mannigfaltigkeit in den Gruppen historischer Gemählden aus der verschiedenen Beschaffenheit der Gewänder und aus den verschiedenen Farben derselben entstehet, muß jeder Mensch bemerkt haben, der irgend mit einiger Aufmerksamkeit dergleichen Gemählde betrachtet hat. Es würde unmöglich seyn einer Gruppe von nakenden Figuren die schöne Form, die gute Haltung und die angenehme Harmonie bey der Mannigfaltigkeit der Farben zu geben, die uns ofte bey bekleideten Figuren so viel Vergnügen macht. Und in Absicht auf das Helle und Dunkele, welches man nicht allemal, wo man es nöthig hat, durch die Stärke des Lichts und der Schatten erreichen kann, sind die Gewänder das einzige Hülfsmittel; denn ein helles Gewand bey schwachem Licht, oder ein dunkeles bey starkem, thut die Dienste des Lichts und Schattens.

Auch der Ausdruk selbst gewinnt ofte durch das Gewand. Erstlich, weil es dem Charakter oder sittlichen Tone des Gemähldes ungemein aufhelfen kann; da in den Farben Fröhlichkeit und Traurigkeit, Lieblichkeit und Anmuth, oder strenger Ernst liegt: vermittelst der Gewänder aber hat der Mahler den charakteristischen Ton der Farben völlig in seiner Gewalt. Eine fröhliche Scene von Jünglingen und Mädchen kann durch wol gewählte Farben der Gewänder noch fröhlicher werden. Eben so dienet die Form derselben zu Unterstützung des Ausdruks. Leichtsinn und Ernst, guter und schlechter Geschmak, und bald möchte man sagen, eine gute oder schlechte Art zu denken überhaupt, können schon durch die Bekleidung vorgestellt werden. Es giebt, wie bekannt, Kleider der festlichen Freud und der Trauer, und wie ofte zeiget nicht schon der Zustand der Kleider eine durch Leidenschaft verwirrte Seele an?

Dieses kann hinlänglich seyn den Künstler zu überzeugen, wie wichtig es sey die Kunst des Gewandes zu studiren. Wo aber irgend ein Theil der Kunst von Genie und Geschmak abhängt, so ist es dieser, weil das Studium der Natur selbst von keiner großen Hülfe seyn kann. Man sieht selten andre Kleider, als die, welche die Mode verordnet; diese sind gemeiniglich nicht nach dem Geschmak des guten Künstlers. Er muß meistentheils die Gewänder selbst erfinden, und seinen Gliedermann damit bekleiden. Dabey ist er in vielen Fällen durch das Uebliche, das man in Kleidern nicht immer übertreten kann, gebunden. Diesen Schwierigkeiten hat man es zu zuschreiben, daß sehr wenig Künstler es in diesem Theile zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht haben. Alle einzele Theile der Kunst vereinigen sich in diesem. Man muß ein starker Zeichner und ein guter Coloriste seyn, man muß den feinesten Geschmak für das Schöne der Formen, ein zartes Gefühl für alles, was irgend die sittliche Kraft der Dinge unterstützt, eine fruchtbare und lebhafte Phantasie haben, um hierin das Vollkommene zu erreichen. Blos die gute Behandlung der Falten allein, was für großen Schwierigkeiten ist sie nicht unterworfen?1 Darum ist auch Raphaels großes Genie hierin weiter gekommen, als andre Mahler.

Es wär ein sehr vergebliches Unternehmen, über eine Sache, wo es so ganz auf Genie, Geschmak und Empfindung ankömmt, besondere Regeln aufzusuchen. [477] Nothwendig aber war es, den jungen Künstler auf die Wichtigkeit dieser Sache, und den großen Antheil, den die Gewänder an der Schönheit eines Gemähldes haben, aufmerksam zu machen, damit er diesen Theil der Kunst nicht verabsäume, sondern ein langes und ernsthaftes Studium darauf wende.

Die Form der Gewänder, ihr Schwung und ihre Falten kann man aus Zeichnungen und Kupferstichen genugsam erkennen. Also ist dieses eines der Hülfsmittel zu Bildung des guten Geschmaks der Gewänder. Dazu kann man auch gute Zeichnungen der Kleidertrachten fremder, besonders asiatischer Nationen brauchen. Weil wenig Menschen sich mit Erlernung mehrerer Sachen zugleich abgeben können, so möchte man immer einem jungen Künstler rathen, das Studium dieses Theiles eine Zeitlang besonders zu treiben.

1S. Falten.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 476-478.
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