Deutlichkeit

[243] Deutlichkeit. (Schöne Künste)

Wir nennen diejenigen Gegenstände unsrer Erkenntnis deutlich, in denen wir das, was ihre Art oder Gattung bestimmt, klar unterscheiden können. Ein Gebäude fällt deutlich in die Augen, wenn seine besondere Beschaffenheit, wodurch wir es für eine Kirche, oder für ein Wohnhaus, oder für eine Scheune erkennen, uns klar ins Gesicht fällt. Also wird durch die Deutlichkeit jeder Gegenstand für das erkennt, was er ist, oder seyn soll, und ist allezeit etwas relatives, weil man nicht eher von der Deutlichkeit eines Gegenstandes urtheilen kann, bis man bestimmt weiß, was er da, wo man ihn sieht, vorstellen soll. Wenn man in einem Gemähld einen Gegenstand sähe, den man für ein Gebäude erkennte, ohne sagen zu können, was für eine besondere Gattung des Gebäudes es ist; so könnte dieser Gegenstand, so wie er ist, deutlich oder undeutlich seyn, nachdem die Natur der Scene, zu der er gehöret, erfodert, daß er entweder als ein Gebäude überhaupt, oder als ein Gebäude einer gewissen Gattung erscheine.

Dieses leitet uns auf die Bemerkung, daß in den Werken der Kunst jeder Gegenstand den Grad der Deutlichkeit haben müsse, der ihm in der Verbindung, darin er ist, zukommt, damit er bestimmt für dasjenige erkennt werde, was er in dem Werke seyn soll. Das Gemähld, es sey eine Historie oder eine Landschaft, giebt das beste Beyspiel zur Erläuterung dieser Anmerkung. In einem historischen Gemählde sind die Hauptpersonen nicht deutlich genug vorgestellt, wenn man nicht gar alles an ihnen sieht, was dienet, sie für die Personen, die sie vorstellen, zu erkennen, und sie in der Lage und Gemuthsbeschaffenheit, die aus der Handlung entsteht, zu sehen. Nebenpersonen können deutlich genug seyn, wenn man gleich nicht so bestimmt wahrnehmen kann, wer sie sind, und was sie fühlen: es kann so gar nach der Absicht des Mahlers schon genug seyn, wenn Personen nur in dem Grad der Deutlichkeit bezeichnet werden, daß man sieht, ob sie ankommen oder weggehen, wenn man auch sonst gar nichts bestimmtes an ihren Personen oder Handlungen sahe.

So muß in einem Werk der Kunst jeder einzele Theil den Grad der Deutlichkeit haben, der hinlänglich ist, ihn so kennbar zu machen, als er in der Verbindung mit dem Ganzen seyn soll. Wenn Homer eine Schlacht beschreibt, so bringet er uns nur wenige Personen so nahe vors Gesicht, daß wir jede Stellung und Bewegung derselben bestimmt sehen; er thut dieses jedesmal nur in Ansehung der Hauptpersonen: andre läßt er uns in einer größern Entfernung sehen, und begnüget sich uns überhaupt merken zu lassen, daß sie tapfer mitstreiten; noch andre aber rükt er so weit aus dem Gesichte, daß wir blos ihre Gegenwart im Streit erkennen, ohne zu bemerken, was sie dabey besonders thun. Also setzet er jeden in das Licht, darin er seyn muß, um die ganze Scene, bestimmt in die Augen fallen zu lassen.

So macht es auch der Redner, der nur die Hauptvorstellungen deutlich entwikelt und bis auf einzele Begriffe klar darstellt, jede andre Vorstellung aber nur in dem Maaße ihrer Wichtigkeit in einem höhern oder geringern Grad der Deutlichkeit zeiget. Dieses ist auch das einzige Mittel, einem aus vielen Theilen bestehenden Werk im Ganzen die gehörige Deutlichkeit zu geben; so daß in der That die Undeutlichkeit einzeler Theile zur Deutlichkeit des Ganzen nothwendig werden. Eine Landschaft würde keine würkliche Gegend vorstellen, wenn nicht jeder Gegenstand nach dem Grad seiner Entfernung an Deutlichkeit abnähme; denn eben diese Abnahme an Deutlichkeit bewürkt das Gefühl der Entfernung. Und es würde ungereimt seyn, an einem in großer Entfernung liegenden Gegenstand, dessen bestimmte Art man wegen des allzu [243] großen Abstandes nicht mehr erkennen kann, den Mangel der Deutlichkeit zu tadeln, da dieser Gegenstand schon dadurch deutlich genug wird, daß er sichtbar ist.

Es ist also zu der Deutlichkeit des Ganzen nothwendig, daß die Hauptsachen von den Nebensachen gehörig unterschieden, und jeder Theil des Gegenstandes in das dem Grad seiner Wichtigkeit angemessene Licht gesetzt werde: weil dadurch allein das Ganze die gehörige Deutlichkeit erhält.

In den Werken der redenden Künste, die von einiger Weitläuftigkeit sind; in Erzählungen, Beschreibungen und in dem lehrenden Vortrag, entsteht die Deutlichkeit überhaupt aus der genauen Abtheilung der Gegenstände, aus der Ordnung, wie sie auf einander folgen, und aus der Ausführlichkeit, womit die Hauptvorstellungen bezeichnet werden. Und denn noch insbesonder in einer geschikten Art, das End einer jeden Hauptvorstellung, den Anfang der folgenden, und den Zusammenhang derselben, durch einen geschikten Ausdruk deutlicher zu machen. In diesem besondern Punkt eines deutlichen Vortrages können die französischen Schriftsteller als Muster angepriesen werden. Wie aber überhaupt die Materie abzutheilen und die Theile anzuordnen seyen, damit das Ganze deutlich werde, ist höchst schweer zu sagen. Die Lehrer der Redner geben hierüber kein Licht; ihre Anmerkungen erstreken sich blos auf die Deutlichkeit im Ausdruk einzeler Gedanken, und hauptsächlich nur auf die, welche von der Wahl der Wörter herkommt, wobey wenig Schwierigkeit ist. Allgemeine Betrachtungen über die Eintheilung oder Gruppirung der Vorstellung, über die Anordnung derselben, fehlen in der Theorie der redenden Künste ganz. Und doch sind diese beyden Punkte beynahe das wichtigste, was der Redner, der dramatische und der epische Dichter wissen müssen.

Die allgemeineste, aber auch wichtigste Lehre, die man Rednern und Dichtern hierüber geben kann, ist diese: daß sie die Anlage ihres Werks nicht eher machen, bis sie die Materie desselben völlig in ihrer Gewalt haben. Dieses geschieht, wenn sie dieselbe so lang und so oft überdacht haben, bis sie ihnen so geläufig worden ist, daß sie dieselbe mit einem Blik übersehen können. Wer einen Menschen so oft und in so vielerley Umständen gesehen hat, daß er sich jedes Gesichtszuges, jeder Gebehrde und Bewegung desselben mit Leichtigkeit erinnert, dem wird es unendlich leichter eine Beschreibung seiner Person zu machen, als wenn er ihn nur einmal gesehen hätte. Und so verhält es sich mit jedem andern Gegenstand unsrer Vorstellungen. Wer eine Begebenheit, davon er ein Zeuge gewesen ist, oft überdacht, und sich jedes Umstands dabey wieder erinnert hat, daß ihm jedes einzele darin, so oft er will, wieder beyfällt, der allein kann sie mit der Deutlichkeit wieder erzählen, die nöthig ist, sie auch andern deutlich vorzustellen. Die vollständige Sammlung aller zu einer Sache gehörigen Gedanken und die völlige Besitznehmung derselben ist nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste Verrichtung des Künstlers. Hat er dieses erhalten, so wird ihm nach Maaßgebung seiner Beurtheilungskraft auch die Eintheilung und Anordnung der Sachen leicht werden. Hat er diese, so muß er sich eben so bemühen, die Hauptvorstellungen besonders, eine nach der andern lang und vielfältig zu überdenken; denn dadurch erhält er den dritten zur Deutlichkeit nöthigen Punkt, die Ausführlichkeit der Hauptvorstellungen.

Ueberhaupt aber müssen Redner und Dichter die Werke der besten Mahler in ihrer Anordnung, in den Gruppirungen, und in der ausführlichen Bearbeitung der Hauptgruppen fleißig studiren, und sich zum Muster der allgemeinen Deutlichkeit vorstellen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 243-244.
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