Führer

[410] Führer. (Musik)

Ist in der Fuge das Thema, oder der Gesang der Hauptstimme, welche in den andern Stimmen nachgeahmet wird.1 Bey Verfertigung der Fugen hat man nicht, wie bey andern Singstüken, blos darauf zu sehen, daß der Gesang mit dem Charakter, oder dem Inhalt der Worte genau übereinkomme; man muß über dieses den Führer so einrichten, daß er in den andern Stimmen genau könne nachgeahmet werden, welches, zumal in drey oder vierstimmigen Fugen, bisweilen große Schwierigkeit macht. Man hat also so wol in Ansehung seiner Länge, als der melodischen Fortschreitung verschiedenes zu bedenken.

Er muß nicht so lang seyn, daß er nicht im Ganzen leicht faßlich wäre; denn wenn diese Faßlichkeit wegfiele, würde das Wesen der Fuge darunter leiden, weil man die Nachahmung nicht wol mehr mit dem Hauptgesang würde vergleichen können. Ist die Melodie desselben schon an sich sehr faßlich, so kann der Führer, doch immer nach Maaßgebung der langsamen oder geschwinden Bewegung, ohne Gefahr vier, fünf oder sechs Takte lang seyn; ist sie aber schweerer, so muß er kürzer seyn.

In Ansehung der Melodie ist ohne Zweifel das Einfache das beste; je fließender und natürlicher der Gesang ist, je besser schikt er sich zum Fugensatz. Am schiklichsten sind die, deren Umfang nur eine Quarte oder Quinte ausmacht, und in die untre Hälfte der Octave fällt, in welcher alle wesentlichen Sayten der Tonart vorkommen; weil dadurch sogleich die Tonart festgesezt wird. Dabey ist auch fürnehmlich darauf zu sehen, daß der Gesang des Führers eine leichte und abzuändernde Harmonie zum Grund habe, weil dieses die Nachahmung ungemein erleichtert. Endlich ist auch zu vermeiden, daß der Führer sich mit einem förmlichen Schluß endige, weil die Fuge keinen ganzen Schluß zuläßt, als am Ende. Wär aber das Thema so, daß es sich natürlicher Weise mit einer Cadenz endiget, so müßte auf dem Schluß eine andre Stimme dergestalt eintreten, daß der Gesang ohne Ruhe fortgienge.2

Der Gesang des Führers soll eigentlich den Umfang einer Octav nicht überschreiten; doch geschieht es bisweilen größerer Bequämlichkeit halber, daß dieser Umfang um einen, oder zwey Töne überschritten wird. Die schönsten Sätze sind ofte von geringem Umfang und überschreiten nicht einmal die Quarte. Ohne den Gefährten oder den so genannten Begleiter sogleich in Gedanken zu haben, kann der Führer nicht glüklich erfunden werden. Man muß sogleich voraussehen können, auf wie mancherley Art er nachzuahmen ist, und was für Schwierigkeiten dabey vorkommen können. Und da auch die Gegensätze aus dem Führer müssen genommen werden, damit man eine wahre Einheit des Gesanges erhalte, so muß er auch dazu tüchtig seyn. Er kann übrigens in jedem Intervall seiner Tonica anfangen, und jede Art der Bewegung haben.3

1S. Fuge.
2S. Gegensatz.
3S. Gefährter.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 410.
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