Tanzstük

Tanzstük. (Musik)

Jeder Tanz, der ein Ganzes vorstellen soll, verlangt ein Geräusch neben sich, das in rhythmische Glieder getheilt ist, nach denen der Tänzer seine Schritte einrichtet, und wodurch die Regelmäßigkeit und Ordnung des Tanzes sinnlich wird. Hiezu wäre ein Instrument hinlänglich, das weiter nichts musikalisches hätte, als daß es rhythmische Schläge hören ließe, z.B. die Trommel, wodurch eine große Anzahl Tänzer in gleichem Schritt erhalten werden könnten; auch lehret uns die Geschichte, daß einige wilde Nationen blos nach solchen lärmenden Trommelschlägen tanzen. Indessen so vollständig der Tanz auch bey einer solchen Vereinigung ungesitteter Nationen seyn mag, so ist doch dieses nur der niedrigste Grad des Vergnügens, den die Tanzkunst gewähren kann. Der Geschmak hat einen Ekel an einem blos einförmigen Schalle, der das Ohr rühret, ohne es zu vergnügen; daher muß der Gesang, oder etwas dem Gesang ähnliches, das mit dem Charakter des Tanzes übereinstimmt, noch dazu kommen, und indem das Aug an der Bewegung des Tänzers Vergnügen findt, zugleich dem Ohre Belustigung geben, damit der Tanz von beyden Seiten interessant werde.

Der Gesang ist allen Menschen bey jeder Handlung, die die Fröhlichkeit erzeugt, so natürlich, und an sich selbst aller Arten von Rhythmus so fähig, daß man Mühe hat, sich eine Nation, oder eine Versammlung von tanzenden Personen vorzustellen, die nicht Tanz und Gesang mit einander vereinigen sollte. Bey allen gesitteten Nationen älterer Zeit hatte der Geschmak diesen Künsten noch die Poesie zugesellet, und man tanzte nach Liedern, die gesungen wurden. Es sey nun, daß man nach der Zeit mehr Tänze als Lieder erfand, oder daß man bey den mannichfaltigeren und schweereren Tanzfiguren, der Beschweerlichkeit des Singens wegen, sich begnügte, die Lieder blos von Instrumenten spielen zu lassen, und es hernach überdrüßig wurde, immer dieselben Melodien zu hören, und andere an ihre Stelle sezte; so ist doch gewiß, daß die mehresten Tanzstüke heutiger Zeit blos Instrumentalstüke sind, und daß derselbe Tanz oft nach vielerley Tanzmelodien, die aber alle dieselbe innere Einrichtung haben müssen, getanzt wird.

Es bleibt für die mehresten Tonsezer ein Geheimnis, gute Tanzstüke zu sezen, weil sie nicht genug in allen Arten des Rhythmus geübt sind, die in den Tänzen so mannichfaltig und oft so fremd und ungewöhnlich sind, und die hauptsächlich jeden Tanz charakterisiren. Die mehresten Tanzstüke enthalten gleich in den ersten zwey oder vier Takten alle rhythmische Schläge, die durchs ganze Stük vom Anfang bis zu Ende wiederholet werden. Hierüber muß ein leichter und variirter Gesang zusammengesezt werden, [1144] der einen mit dem Tanz übereinstimmenden Charakter hat, dessen Einschnitte genau, deutlich und ungezwungen mit den Einschnitten des Rhythmus zusammentreffen, der überdem ein musikalisches Ganzes ausmacht, das auch ohne Tanz seinen Werth und seinen Ausdruk hat. Ein solches Tanzstük ist in der Instrumentalmusik, was ein Lied in der Vocalmusik ist. Es gefällt allen Menschen, und je mehr, je länger es wiederholet wird. Die Kraft des Gesanges und des Rhythmus wird bey jeder Wiederholung stärker. Ein Tanzstük von acht Takten kann durch vielfältige Wiederholung, zumal, wenn die Bewegung allmählig geschwinder wird, auf den Tänzer so unwiederstehlich würken, bis er kraft- und athemlos zu Boden sinkt.1

Nationaltanzstüke, die nur einer Nation oder einer Provinz besonders eigen sind, sind am schweeresten nachzumachen. Sie haben so viel eigenes in der Melodie, in den Einschnitten, im Rhythmus und in den Schlußfällen, und oft so viel von unserer gewöhnlichen Musik abstechendes, daß man selbst von der Nation seyn, oder sich ganz in ihren Geschmak versezen, und den seinigen verläugnen muß, um vier ähnliche Takte hervorzubringen. Jede Nation schildert sich, wie in den Tänzen, so auch in den Tanzstüken. Es wäre für einem philosophischen Tonsezer eine wichtige Sammlung, Tanzstüke von allen Nationen zu haben, ihre verschiedenen Wendungen des Gesanges und der Modulation oft in einerley Ausdruk, ihren verschiedenen Geschmak, und die verschiedene Würkung, die sie im Ganzen auf ihn machen, zu beobachten, und dadurch sowol seine Kenntnisse zu erweitern, als auch richtige Schlüsse daraus auf den Charakter und die Sitten der Nation selbst zu ziehen. Es wäre zu wünschen, daß jeder Tonsezer alle fremde und unbekannte Tanzstüke, deren er habhaft werden könnte, durch den Druk allgemein machte. Mancher Tanz würde einem nachdenkenden Tonsezer gewiß mehr Neues zeigen, und mehr zu lernen geben, als Sei Sonate in dem allerneuesten Geschmak.

Unter den europäischen Nationen hat die französische die mehresten Gattungen von Tanzstüken geliefert. Einige davon sind sehr allgemein geworden, vornehmlich die Menuet; andere sind weniger allgemein, und viele blos theatralisch. Unter diesen giebt es Tanzmelodien, die große Mannigfaltigkeit erfodern, wie die Chaconne und die Passecaille. Diese Mannigfaltigkeit ist eine reiche Quelle von mancherley Gemählden, die der Tänzer vorstellen und womit er eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen ausdrüken kann. Eine solche Tanzmelodie muß wenn sie vollkommen seyn soll, einigermaaßen dem Tänzer jede Bewegung an die Hand geben.

Da kein Tanzstük ohne vollkommene Regelmäßigkeit der Takte, der Einschnitte, und des Rhythmus seyn kann, so haben gute Tonlehrer ihre Schüler allezeit hauptsächlich zu Tanzstüken verschiedener Art angehalten, damit sie sich in dem Mechanischen des Takts festsezen, und ordentlich denken lernen. Auch war es die Gewohnheit der ältern Tonsezer, ihre Suiten, Partien und Ouvertüren fast blos aus Tanzstüken von verschiedener Art bestehen zu lassen. Dies war zugleich die beste Uebung im Vortrag. Die verschiedenen Taktarten; die mannigfaltigen Einschnitte, die deutlich marquirt werden mußten; die jedem Tanzstük eigene Bewegung und Schweere oder Leichtigkeit im Vortrag; die mancherley Notengattungen, und die Mannigfaltigkeit der Charaktere und des Ausdruks, übten die Spiehler in den größten Schwierigkeiten, und gewöhnten sie an einen sprechenden, ausdruksvollen und mannigfaltigen Vortrag. Heut zu Tage werden die Tanzstüke zu sehr vernachläßiget. Wie wenige sind im Stande, z. E. eine gute französische Loure zu sezen, oder gut vorzutragen? Dieser Vernachläßigung ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß unsere heutigen Instrumentalstüke sich alle so ähnlich sehen, so arm an charakteristischen Zügen, und so oft im Rhythmus fehlerhaft sind; daß außer den wenigen Formen, an die wir uns halten, und die doch im Grund aus Tanzstüken entstanden sind, keine neue erfunden werden, und daß der ausdruksvolle Vortrag, der die Musik zu einer leidenschaftlichen Sprache macht, so selten, und an dessen Statt eine manierliche, geziehrte, ohne Kraft und Nachdruk tändelnde Art vorzutragen, überhand genommen hat.

Die Tanzstüke zu pantomimischen Tänzen sind von einer ganz besondern Gattung, und machen gleichsam den Text oder die Worte aus, nach welchen der Tänzer seinen Gang und seine Gebehrden einrichtet; daher sie nicht so regelmäßig, als die andern Tanzmelodien seyn können. Sie leiden weder die Einheit des Charakters noch die Regelmäßigkeit der Einschnitte und kommen darin mit dem Recitativ überein. Man hat über diese Gattung wenig [1145] nachgedacht: aber sie erfodert große Erfahrung über die Kraft der Musik und den Ausdruk der Modulation, der Fortschreitung und der verschiedenen Bewegungen. Der Tonsezer muß dazu eine große Geschiklichkeit besizen, jede Gemüthsbewegung auszudrüken. Denn alles, was der Tänzer ausdrükt, muß schon durch die Melodie und Harmonie angedeutet werden.

1S. Rhythmus
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1144-1146.
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