Ueberflus

[1187] Ueberflus. (Schöne Künste)

Der Reichthum in Werken der Kunst, der ihrer Würkung schadet. Es ist eine bekannte Anmerkung, daß man auch des Guten zu viel thun könne. Wir wollen dieses besonders auf die Werke der Kunst anwenden, und einigen Künstlern, denen dieses nüzlich seyn kann, begreiflich machen, daß man auch zu viel Schönes zusammen häufen könne. Die Künste haben hierin mit den Veranstaltungen des gemeinen Lebens nichts voraus, noch der Geschmak am Schönen, vor dem gröbern Geschmak, der auf die Befriedigung [1188] der natürlichen Bedürfnisse abziehlt. Der Ueberfluß schwächt überall die Annehmlichkeit des Genusses.

Diejenigen, denen die Wahl der Mittel zur Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse schweerer wird, als die Anschaffung derselben, genießen unstreitig weniger Vergnügen, als die, deren Begierden durch einige Schwierigkeiten sie zu befriedigen gereizt, und deren Geschmak durch Mäßigkeit in seiner natürlichen Lebhaftigkeit erhalten wird. Eben so geht es in Sachen, die blos auf die feinere Bedürfnisse der Seele abziehlen. Was für ein entzükendes Vergnügen ist es nicht, sich der Wollust der Freundschaft und der Zärtlichkeit zu überlassen, wenn die Gelegenheit dazu etwas selten ist? Mit was für durchdringendem Vergnügen wird man nicht eingenommen, wenn man sich in einer guten Gesellschaft befindet, wo Geist, Munterkeit und Vergnügen mit Verstand und Kenntniß herrscht, wenn man sie selten genießt?

Eine reiche Bildergallerie rührt anfänglich durch den Reichthum und die Mannigfaltigkeit, aber der Geist wird bald durch die Menge der Gegenstände zerstreuet; man hat Mühe seine Aufmerksamkeit zu sammeln, um das Vergnügen von einem Meisterstük ganz zu genießen. Ein Gemählde von der ersten Art in einem Zimmer, sammelt alle unsre Sinnen zusammen, und wir genießen es ganz. Ein einziger Diamant an dem Hals, oder auf der Brust einer Schönen, reizt das Auge ungemein; aber die Menge derselben macht einen Augenblik erstaunt, und verliehrt bald allen Reiz.

Der Künstler versteht seinen Vortheil gewiß nicht, der das Schöne in seinen Werken aufzuhäufen sucht; denn je höher seine Gattung ist, je sparsamer muß es vorkommen. Die fürtreflichsten Gleichnisse, die häufig sind, verliehren ihre Kraft; in einem Gemählde von viel Figuren, wo jede eine Hauptfigur zu seyn verdienet; im Drama, wo jede Person unsrer ganzen Aufmerksamkeit werth wäre, in einem Tonstük, wo jeder Ton mit allen Vortheilen des Reizes und des Nachdruks vorgetragen wird, wo jede Figur tief ins Herz dringet, an allen solchen Werken ist ein schädlicher Ueberflus. Nichts ist fürtreflicher, als die Metaphern und die starken Gedanken des englischen Dichters Young, aber ihr Ueberflus macht sie ermüdend und gebiehrt Ekel.

Es scheinet, als wenn die ersten Kenner, sowol unter den Alten, als unter den Neuern die vornehmsten Werke der Bildhauer mehr bewunderten, als die ersten Werke der Mahler. Sollte der Grund hievon in der Sparsamkeit des Schönen liegen, die in jenen größer ist? Daß die feinesten Kenner den Schriften aus den Zeiten des Augustus und Ludwig des XIV vor denen, die unter Trajan, und unter Ludwig dem XV erschienen sind, den Vorzug geben, kommt größtentheils daher, daß die leztern an Schönheiten überfließen, die in jenen mit kluger Sparsamkeit angebracht sind.

Es ist ein ungemein schädliches Vorurtheil, zu glauben, daß man Schlag auf Schlag unaufhörlich den Geist und die Empfindung angreifen müsse. Denn dieses ist der gewisseste Weg nur schwach zu rühren. Der Künstler versteht sein Interesse am besten, der jeden großen Eindruk so weit von andern entfernt, daß er Zeit hat, sich völlig dem Gemüthe einzudrüken, und sich darin ganz auszubreiten. Je größer die Schönheiten in einem Werk sind, je sparsamer müssen sie vorkommen.

Ist diese Sparsamkeit auch bey der höchsten Schönheit nöthig, so ist sie es noch sehr vielmehr bey Dingen, die blos als Zierrathen anzusehen sind, wo der Ueberflus schnellen Ekel gebiehrt. Die Anmerkungen, welche wir im Artikel über die edle Einfalt vorgetragen, können hieher gezogen werden. Diese ganze Betrachtung aber ist für den deutschen Künstler vorzüglich nothwendig; damit er nicht durch den Schein geblendet, die Werke andrer Völker aus dem Zeitpunkt der Ueppigkeit zu Mustern annehme, wie die ersten italiänischen Baumeister gethan haben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1187-1189.
Lizenz:
Faksimiles:
1187 | 1188 | 1189
Kategorien: