Gastfreiheit

[147] Gastfreiheit ist die patriarchalische Tugend, nach welcher die Fremden gastlich aufgenommen und geschützt werden und welche namentlich bei Völkern gefunden wird, unter denen ein regelmäßiger und häufiger Verkehr mit Fremden nicht stattfindet. Sind in einem Volke die Familien noch in größerer Abgeschiedenheit von einander, getrennt durch unwegsame, gefahrvolle Gegenden, in die sich wenige Reisende verirren, kommt noch selten ein Fremder, von Wißbegierde getrieben, oder in Handelsinteressen in das Land, so lehrt theils die Menschenliebe den Obdachlosen gastlich aufnehmen, theils ladet dazu die Begierde ein, aus fernen Gegenden von ihm Kunde einzuziehen. Die Gastfreiheit bei vereinzelt und einsam lebenden Menschen ist so natürlich, daß wir sie nicht nur bei den gepriesenen und bewunderten Völkern des Alterthums, sondern bei allen Völkern finden, welche nur einigermaßen zu geistigen Interessen erwacht sind. In jenem Alterthume lebte die Gastfreiheit auch noch in einer Zeit fort, wo die Völker schon eine Geistesbildung [147] erreicht hatten, welche mit Recht noch jetzt ein Gegenstand unserer Bewunderung ist. Dies war nur dadurch möglich, daß jene Völker völlig vereinzelt dastanden und ein großartiger Verkehr, wie gegenwärtig, noch keineswegs stattfand. Unter unsern Verhältnissen ist die Gastfreiheit nur in sehr beschränktem Maße möglich. Der Fremden sind zu viele, als daß es auch nur möglich wäre, alle frei zu bewirthen, und auch das Interesse an den Fremden selbst ist durch den allseitig erleichterten und belebten Verkehr sehr herabgesetzt. Am ausgebildetsten ist noch die Gastfreiheit bei den Bekennern des mohammedanischen Glaubens. Wohlthun ist noch eine der heiligsten Pflichten bei ihnen und der Verkehr in ihren Ländern auch noch beiweitem minder lebendig als bei uns. Doch sind auch hier zum Theil Einrichtungen getroffen, welche die Ausübung der Gastfreiheit aus dem Schoose der Familie heraussetzen und dadurch bei dem immer schon zu großen Zudrange der Fremden erleichtert haben. (Vergl. Karavanserais). Bei den Arabern ist die Gastfreiheit noch jetzt so heilig, daß selbst der Feind, spricht er die Gastfreiheit an, nichts zu fürchten hat, so lange er unter dem Dache seines Wirths weilt und daß mit dem Fremden alle Besitzthümer, so lange er weilt, brüderlich getheilt werden. Hat der Wirth selbst nicht mehr zu leben, so geht er mit seinem Gaste zum nächsten Nachbar und findet hier ebenso freundliche Aufnahme, als er gewährte. Bei einigen rohen Völkern geht die Gastfreiheit sogar so weit, daß sie sich glücklich fühlen, wenn der Gast ihre Frauen als seine eignen behandelt.

Aus der Gastfreiheit entsteht von selbst die Gastfreundschaft, wenn Gast und Wirth Wohlwollen zueinander gewinnen, und die Gastgeschenke beim Abschied sind Zeichen dieses Wohlwollens und sollen dazu dienen, auch noch in der Ferne sich des genossenen Umgangs zu erinnern. Familien traten so, namentlich im griech. Alterthum, einander näher und schlossen Freundschaftsbündnisse, die von Vater auf Sohn erbten. Da pflegte man wol einen Ring zu brechen und dem scheidenden Gaste die eine Hälfte mitzugeben, damit, wenn einst später ein Sohn der einen Familie die andere aufsuchte, er an der mitgebrachten Hälfte des Ringes als Gastfreund erkannt werde. Der oberste Gott der Griechen, Zeus, schützte selbst das heilige Gastrecht und erhielt daher den Beinamen des Gastlichen (Xenios). Die Mythe erzählte, daß zuweilen Götter selbst in menschlicher Gestalt die Gastfreiheit der Menschen in Anspruch nähmen und Segen dem Gastlichen, Unsegen dem Ungastlichen sendeten. Eine eigne Einrichtung bei den Griechen war das Institut der Gastfreunde, welche von einzelnen Städten ernannt wurden. Solch ein Gastfreund (Proxenos) wurde vom Staate in einer fremden Stadt ernannt und erhielt dafür mancherlei Privilegien und Ehren, um, wie etwa bei uns die Consuln, die Bürger des Staats in der Fremde zu beschützen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 147-148.
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