Weichselzopf

[677] Weichselzopf, Wichtelzopf, ein in den Weichselgegenden in Rußland, der Tatarei einheimische, vereinzelt auch in Ungarn, Slawonien, Kroatien vorkommende, merkwürdige Krankheit, welche dem bösartigen Kopfgrinde, nach Einigen dem Aussatze, nach Andern der Gicht nahe verwandt sein soll und ansteckender Natur ist. Sie äußert sich durch Anschwellen der Haarwurzeln, die zugleich eine schleimige, klebrige, übelriechende Feuchtigkeit absondern, durch welche das Haar am Kopfe und Barte zusammengeklebt wird [677] und unentwirrbare Wülste oder Zöpfe bildet, wobei neben mancherlei allgemeinen Körperleiden sich besonders Entzündung der Nägel an Fingern und Zehen einzustellen pflegen, die dabei zu unförmlichen Hornmassen werden. Der Ausbildung dieser bösartigen Krankheit gehen Monate und mitunter Jahre lang allerlei Krankheitserscheinungen vorher, die damit in näherer oder fernerer Beziehung zu stehen scheinen. Dahin gehören Störung der Eßlust, der Verdauung, Anschwellung der Unterleibsorgane, besonders der Leber; ferner Kopf-, Ohr- und Zahnschmerzen, Schmerzen unter den Nägeln, übelriechende Schweiße u. dgl. m. Sie verschwinden plötzlich oder allmälig, wenn das Übel des Kopfes zum Ausbruch kommt. Das Haar verfilzt sich meist dicht an den Wurzeln, wächst aber fort, daher der anfangs unbewegliche Zopf nicht blos zunimmt, sondern auch, wenn das Übel sich zur Heilung neigt und Haar von gesunder Beschaffenheit nachwächst, sowie die Absonderungen aufhören, beweglich wird und abgeschnitten werden kann. Dies darf jedoch nie zu früh geschehen, was schlimme Folgen für den Kranken hat, indem sich das Übel dann mit Macht auf innere Theile wirst, die ohnedies schon sehr angegriffen zu sein pflegen. Auch durch die Schwere des Zopfs ist diese Krankheit sehr lästig, indem dieselbe bis zwölf Pfund beobachtet worden ist. Sie kommt bei Personen jeden Alters und bei beiden Geschlechtern, weniger jedoch bei Kindern und alten Leuten und vorzugsweise in den untersten Ständen und bei den Juden vor, wo Unreinlichkeit, unvorsichtiger Gebrauch von Kleidern, besonders Kopfbedeckungen daran Leidender, vielleicht auch die tiefe Lage der Wohnungen und andere örtliche Umstände sie begünstigen. Der Weichselzopf macht häufige Rückfälle und führt dann durch allgemeine Zerrüttung des Körpers den Tod herbei. Die Tataren sollen diese Krankheit im 13. Jahrh. mit nach Polen gebracht, nach Andern aber soll sie dort erst im 16. Jahrh. sich gezeigt haben.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 677-678.
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