Tatarei

Tatarei

[368] Tatarei hieß im Mittelalter im Allgemeinen das mittlere Asien.

Man unterschied später die kleine oder europ. Tatarei (die sonstigen Khanate Krim, Astrachan und Kasan) und die große asiat. Tatarei, auch die freie genannt, zum Unterschied von der angrenzenden, den Chinesen unterworfenen kleinen Bucharei (s.d.). Die asiat. Tatarei, jetzt gewöhnlich auch Turkestan genannt, umfaßt über 32,600 ! M. und wird vom russ. Asien, nämlich [368] von der Kirgisensteppe, von den chines. Ländern, von Afghanistan, von Iran und vom kaspischen Meere begrenzt. Es ist größtentheils ein mächtiges Hochland, welches sich gegen W. zur Ebene abdacht. Fruchtbare Thäler gehen in Steppen, Sandwüsten und ausgedehnte Moorgegenden über. Von den zahlreichen Flüssen sind die in den kaspischen See mündenden unbedeutend. Dagegen mündet in den Aralsee der Amu-Darja oder Gihon, der Oxus der Alten, der Kisil-Darja. d.h. rothe Fluß, oder Dschan-Darja, der Sir-Darja oder Sihon (der Jaxartes der Alten). Sehr groß ist die Anzahl der Salzseen. Im Ganzen ist das Klima mild, doch geht dasselbe auf den Höhen in ein rauhes Alpenklima über. Producte sind Pferde, Kameele, Esel, Rindvieh, Schafe, Wild, Seidenraupen, Fische, Getreide, Baumwolle, Rhabarber, Flachs, Hanf, Safran, Saflor, Taback, Wein, Obst, Südfrüchte, Gemüse, wenig Holz, Eisen, Kupfer, Blei, Goldsand, See- und Steinsalz, Naphtha, Lapis Lazuli, Karneole, Smaragde, Rubine. Die Einwohner sind: Usbeken, Bukharen, Tadschiks, Kafern und Kirgisen, außer welchen man noch Perser, Hindu, Armenier, Juden und Zigeuner findet. Die Hauptreligion ist die mohammedanische von der sunnitischen Sekte. Die Einwohner haben zum Theil feste Wohnungen, zum Theil leben sie als Nomaden. Viehzucht und Räuberei sind die Hauptnahrungszweige der Letztern. Die an feste Wohnungen Gebundenen sind dagegen ziemlich betriebsam und treiben nicht unbedeutenden Handel mit Pferden, Schafen, Eselshäuten, Filzen, baumwollnen, wollenen und seidenen Stoffen, kleinen Rosinen, Goldsand u.s.w. Die Herrschaft üben mehre theils unabhängige, theils vom Khan von Khiwa oder von China oder von Rußland abhängige Fürsten aus, von denen einige von Dschingis-Khan abstammen wollen. Bei einigen Nomadenstämmen ist die Regierungsform noch der patriarchalischen ähnlich, indem sie von Ältesten beherrscht werden. – Im W. liegt Khowaresm oder Kharsm, welches in das nur von Nomaden bewohnte östl. Truchmenen- oder Turkmanenland, die gleichfalls von nomadisirenden Stämmen bewohnte Provinz Aral am Aralsee und Khiwa zerfällt. Das letztere ist eine fruchtbare Oase, deren 3 Mill. betragende Einwohner unter einem Khan stehen, seidene, halbseidene und baumwollene Zeuche verfertigen und einen ansehnlichen Handel treiben. Sie haben eine größtentheils aus mit Bogen, Spießen und Säbeln bewaffneten Reitern bestehende ansehnliche Kriegsmacht. Die Hauptstadt Khiwa liegt an einem Kanal des Amu und zählt 10,000 Einw. Noch größer soll Urghendsch sein. Zu Khiwa gehört das Gebiet von Konrat mit dem Hauptorte Konrat am Amu, wo sich während des Winters der größte Theil der Bewohner des Landes hinter einem hohen, drei Meilen im Umfange haltenden Damme aufhält. – Zu Turkestan oder Taschkent, der ursprünglichen Heimat der Türken, gehören das eigentliche Turkestan und das Khanat Khokan. In jenem liegen die Städte Taras oder Turkestan, welche die Türken als Begräbnißort ihres Heiligen Achmed heilig halten, und Taschkent, [369] eine wichtige Handelsstadt mit 50,000 Einw. Das Khanat Khokan, dessen Khan jetzt auch über das eigentliche Turkestan herrscht und strenge Gerechtigkeit übt, ist der Mittelpunkt des tatar. Gewerbfleißes und Handels. Wichtig sind die Fabrik- und Handelsstädte Khokan und Khodschend. – Außer den genannten Theilen gehören zur asiat. Tatarei noch das Land der Kirgisen (s.d.) und das Land der Usbeken, Usbekistan, welches in die große und die kleine Bucharei (s.d.) getheilt wird.

In noch unbestimmterer Bedeutung wie von der Tatarei hat man in der Geschichte den Namen Tataren oder fälschlich Tartaren gebraucht. Man bezeichnete damit im Allgemeinen die während des Mittelalters aus dem Osten nach Europa hereinbrechenden heidnischen Völkerschaften. Der Name selbst wird abgeleitet von Ta-ta, wie ein in der Wüste Gobi ursprünglich heimisches Volk hieß, welches sich nachher mit den Mongolen vermischte und mit diesen in Europa einbrach, daher man unter dem Namen Tataren auch die Mongolen einbegriff. Diese Völker stifteten im südl. Rußland Staaten, deren Bewohner auch jetzt noch, nachdem jene Reiche längst zu existiren aufgehört haben und obschon die Mehrzahl derselben gar nicht tatar. Abkunft sind, Tataren genannt werden. Diese Völker gehören mehr oder weniger dem Stamme der Turk an, nennen sich auch so und betrachten den Namen Tatar als ein Schimpfwort, ziemlich gleichbedeutend mit Räuber. Diese fälschlich als Tataren bezeichneten Völker bewohnen die Gegenden nördl. vom schwarzen Meere, die Königreiche Kasan und Astrachan und einen großen Theil Sibiriens, sowie man sie auch im westl. Rußland und in der Türkei zerstreut antrifft. Sie zeichnen sich durch eine schlanke, mittelgroße Gestalt, ein ovales Gesicht, einen kleinen Mund und kleine, schwarzglänzende Augen, dunkelbraune Haare und helle Hautfarbe aus. Dabei sind sie muthig, freiheitliebend, gastfrei, friedfertig, würdevoll in ihrem Wesen und etwas träge. Nur wenige bekennen sich zum Christenthum, die meisten sind Mohammedaner oder Heiden. Zu ihnen gehören in Rußland: die nogaischen, die krimischen oder taurischen, die kasanschen Tataren, die Meschtscherjäken, die Baschkiren, die Kumücken, die Kirgisen, die Jakuten, die Bucharen, die Tele-uten, die Barabinzen u.a. – Die umstehend abgebildeten Bewohner der Steppen der asiat. Tatarei sind mongolischen Stammes. Sie leben als Nomaden und bekennen sich zur Religion des Dalai-Lama. Ihren Reichthum machen wild in den Steppen herumschweifende Pferde, Kameele, Rindvieh, Schaf- und Ziegenheerden aus. Sie sind ein verhältnißmäßig ziemlich gesittetes Volk, welches, wie die in jenen Steppen entdeckten großartigen Bauüberreste bestätigen, von einem höhern Zustande der Cultur heruntergekommen zu sein scheint.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 368-370.
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