Graubünden

[128] Graubünden (Pays des Grisons), der größte schweiz. Canton mit 154 QM. aber mit nur 95000 E., von denen ein starker Drittheil kathol. ist, wird von den vielfach verzweigten rhät. Alpen erfüllt, bildet ein Netz von Gebirgsthälern, die größtentheils in das Rheinthal auslaufen. Gegen Osten geht das Innthal (Engadin, s. d.) und das kleine Münsterthal in das Tyrol über, in die Lombardei das Poschiovo u. Bregagliathal (Pusklav, Bergel), in den Tessin das Misocco (Moësathal). An Wasserfällen, Gletschern, Gebirgspässen (Splügen, Bernhardin, Bernina, Julier, Septimer, Maloia, Albula, Lukmanier, Panix, Segnes, Gungels, Selvretta etc.), Felsenstürzen, Wäldern, so wie an alten Burgen etc. kommt keine Alpenlandschaft G. gleich. Eben so mannigfaltig sind die Erzeugnisse, indem die obern Dörfer des Engadin, Davos etc. das Klima der kalten Zone haben, während bei Malans im Rheinthale köstlicher Wein, im Misocco und Bergell die Mandel und die zahme Kastanie gedeiht. Der Ackerbau ist beschränkt u. der Bedarf an Getreide wird zum größern Theile aus Italien bezogen; die dichten Waldungen sind in neuester Zeit unverantwortlich gelichtet worden; der Bergbau ist wenig bedeutend (Marmor, Eisen, Blei, Zink, etwas Kupfer und Silber); die Spedition ist sehr beträchtlich, die Industrie die allereinfachste; Hauptbeschäftigung ist Alpenwirthschaft. – G. ist ein Theil des alten Rhätien und hier wie im Tyrol scheinen wirklich Spuren aufgefunden, welche dafür zeugen, daß Tyrrhener od. Tusker zu den alten Bewohnern des Landes gehörten. Unter Augustus wurde es römisch, später ostgothisch, fränkisch, deutsch. Die mittelalterliche Zersplitterung der Landschaften in eine Unzahl von Herrschaften fand hier im ausgedehntesten Umfange statt; die Vereinigung der Thalschaften und Gemeinden mit den geistlichen Herren (Abt von Disentis, Bischof von Chur) zur Aufrechthaltung des Landfriedens und der hergebrachten Rechte veranlaßten im 14. u. 15. Jahrh. den Grauen- u. Gotteshausbund, der Tod des letzten Grafen von Tockenburg den Zehengerichtenbund (1436), die sich 1471 zu Vazerol mit einander u. 1498 mit den Eidgenossen verbündeten. Die Eroberung von Veltlin und Chiavenna zog G. in die ital. Verwicklungen u. darum in den Kampf mit Spanien, während des 30jährigen Krieges mit Oesterreich, indeß die polit. Parteien, die sich durch die Reformation zu religiösen gestalteten, den innern Frieden grausam störten. Im J. 1798 sollte G. Canton werden, was 1803 durch Napoleons Mediation wirklich geschah, obwohl G. für sich zu bleiben und mit der Schweiz nur bundesverwandt zu sein wünschte. Seitdem theilte es das Schicksal der Schweiz, deren Bild es im Kleinen ist, wie in physischer so in politischer Hinsicht: 3 Bünde mit eigenen repräsentativen Verfassungen, 3 Sprachen: deutsche, romanische, italienische, das Verhältniß der kathol. und reformirten Bewohner, die Auswanderung in die Fremde etc. Jeder Bund zerfällt wieder in Hochgerichte, kleine Republiken, so genannt, weil sie die hohe Gerichtsbarkeit theils mittelbar, bei todeswürdigen Verbrechen in letzter Instanz unmittelbar üben; die Hochgerichte theilen sich in Gemeinden, die innerhalb ihrer Markung souverän sind, so daß G. noch einen Rest aus der altgerman. Verfassung aufbewahrt. Die Nothwendigkeit mancher Reformen ist allgemein fühlbar, indessen haben sich die Gemeinden aus Scheu vor einem Beamten- od. Herrenregiment dazu noch nicht verstehen können, u. nur die neue schweiz. Bundesverfassung hat in Beziehung auf Zoll-, Straßen-, Münz-, Militär- und Niederlassungssachen die alte Souveränität gebrochen, der gemeinschaftl. große Rath von 65 Mitgliedern kann ohne die Gemeinden aber keine gesetzl. Bestimmung ändern. Die Befugnisse der gemeinschaftl. Regierung, eines permanenten Collegiums, sind sehr beschränkt, ebenso wie der gemeinschaftl. Erziehungsrath [128] seine Thätigkeit auf die cantonalen Institute begränzen muß und über die Gemeindeschulen kaum Oberaufsichtsrecht hat. Die reformirte Mehrheit der gemeinschaftl. Regierung macht in neuester Zeit durch Maßregeln, wie z.B. Inventarisirung des Klostervermögens von Disentis, Miene, nach dem Beispiele mancher schweizer. und deutschen Regierung, in das Gebiet reinkirchlicher Rechte hinüberzugreifen.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 128-129.
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