Stoicismus

[342] Stoicismus, stoische Philosophie, Stoa, Stoiker (lauter Bezeichnungen hergenommen von dem Umstande, daß Zeno, der Stifter der stoischen Schule, in der Stoa Poikile d.h. bunten Halle, einer mit Malereien des Polygnot ausgeschmückten Säulenhalle zu Athen seinen Lehrsitz aufschlug), bezeichnet die achtungswertheste philosophische Richtung u. Schule aus der Zeit des sinkenden Hellenenthums u. zugleich diejenige, in deren Ansichten und Grundsätzen sich jene Zerrissenheit und Hilflosigkeit am erschütterndsten ausspricht, in welche die vorchristliche Welt trotz dem Entgegenringen der Besten u. Vernünftigsten verfiel. Der erste Stifter Zeno war wegen seinen Tugenden im Alterthum gefeiert; sein Denkmal enthielt das seltene Lob, sein Leben sei mit seiner Philosophie in vollkommener Harmonie gestanden, obwohl er sich hochbetagt noch selber entleibt haben soll. Ihm folgte als Haupt der Schule Kleanthes (um 260 v. Chr.), kein großer Geist aber ein Charakter, der zäh an der Lehre des Meisters festhielt, dann Chrysippus (st. um 208 v. Chr.), von dem man sagte: »wenn Chrysipp nicht wäre, so würde auch die Stoa nicht sein.« Spätere Häupter, wie Panätius, dessen Werk von den Pflichten Cicero zu einem eigenen verarbeitete, Posidonius, der Lehrer des Cicero und Pompejus, u.a.m. waren nicht sowohl strenge Stoiker als Eklektiker; der edelste Stoiker war Epiktet, der letzte für die Literatur wichtige der Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (161–180 n. Chr.); s. über die Namen die betreff. Art. – Der wenig später als der Epikuräismus sich erbebende S. wollte dem Verderben des einzelnen Menschen ein Gegengewicht verschaffen durch die Anweisung, wie man zur Weisheit, Wissenschaft und Männlichkeit gelange, allein wie wenig er dazu befähigt war, geht am besten aus seinen Lehren hervor. Die Stoiker faßten die Philosophie als Weisheitslehre u. Uebung der Tugend auf, Wissenschaft und Tugend waren ihnen so sehr eins, daß sie eine physische, ethische u. logische Tugend unterschieden. Das Bemerkenswertheste aus ihrer Logik war: 1) daß sie lediglich die Erkenntniß vermittelst der Sinne als Erkenntniß gelten ließen; 2) die Sinnenerkenntniß für subjectiv hielten, nach einem subjectiven Kennzeichen der Wahrheit forschten und dasselbe 3) eben in der Macht des sinnlichen Eindruckes fanden – also Sensualismus. In der Physik schlossen sie sich vielfach an Heraklit an; in Uebereinstimmung mit ihrer Erkenntnißtheorie aber behaupteten [342] sie: es gebe gar nichts Unkörperliches, näher: das Geistige ist materieller Natur, die Welt ein »großes Thier«, Gott aber die belebende Kraft u. herrschende allgemeine Vernunft desselben, in ihr und durch sie allein sich entwickelnd und zwar im Kreislaufe – also entschiedener Pantheismus. In der Ethik stellten sie als obersten Grundsatz das bekannte secundum naturam vivere d.h. in Uebereinstimmung mit der Natur leben, verstanden aber unter der Natur keineswegs nur die von Verkünstelung und Verschrobenheit freigehaltene vernünftige Natur des Menschen, sondern ihren pantheistischen Gottesbegriff und unter dem übereinstimmenden Leben mit diesem das Aufgeben aller persönlichen Ansprüche, das Aufgeben seiner selbst. Mit diesem ersten Grundsatze begann aber auch sofort der Gedankenwirrwarr der Stoa in sittlichen Dingen; erstens erklärten sie die Luft überhaupt u. alle Güter des Lebens für gleichgültige Dinge, die Tugend allein als des wahren Weisen würdig u. für das einzigwahre Gut, aber sie gestatteten dem Weisen doch, im Falle der Wahl das Angenehme u. Nützliche dem Schmerzlichen und Schädlichen vorzuziehen. Zweitens behaupteten sie, zwischen gut u. bös gebe es durchaus kein Mittleres und keine Mischung, denn bei wem die Vernunft erwacht sei den beherrsche sie auch, und deßhalb sei alles gut und alles gleich gut, was immer er thue; wen dagegen der unvernünftige Trieb beherrsche, der könne lediglich schlecht handeln, wenn seine Handlungen auch noch so gut aussähen. In verständliches Deutsch übersetzt heißt dies: der Stoiker ist allein weise u. kann thun, was ihm beliebt; der Beweis hiefür liegt in der Thatsache, daß die Stoiker von dem Ideal eines Weisen keineswegs forderten, daß er nicht betrüge, keine Blutschande treibe u.s.w., sondern nur, daß dergleichen zur rechten Zeit und mit tugendhafter Gesinnung geschehe! – Drittens endlich wußten die Stoiker im einzelnen Falle niemals anzugeben, was die Tugend verlange, sondern begnügten sich, ein ganz abstractes Tugendideal auszumalen und pathetisch zu besprechen, gaben aber zugleich zu, dieses Ideal sei in alten vergessenen Zeiten vielleicht einmal verwirklicht dagewesen, jetzt u. seit langem schon seien die Besten, die nach Tugend u. Weisheit strebten, nur Thoren. So ist vom christlichen Standpunkte aus die vielgepriesene stoische Moral ein seltsames Gemengsel von Widersprüchen: Resignation und sittlicher Rigorismus einerseits, Geisteshochmuth u. Emancipation des Fleisches anderseits, der Grundton aber die Verzweiflung an Gott, der Welt u. sich selber. – S. im heutigen Sprachgebrauch: Gleichmuth, Unempfindlichkeit, Unerschütterlichkeit.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 342-343.
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