Gelenke [1]

[358] Gelenke bei Ingenieurkonstruktionen werden aus verschiedenen Gründen verwendet; meist kommt jedoch in Betracht, daß die auf das Gelenk übertragene Kraft im Falle des Gleichgewichts und abgesehen von der Reibung durch die Gelenkachse bezw. durch den Gelenkmittelpunkt geht, weil sonst infolge des auftretenden Kraftmoments eine Drehung angrenzender Konstruktionsteile um das Gelenk eintreten müßte. Die durch die Reibung bedingten Abweichungen sind selbstverständlich im Auge zu behalten. Ueber die Berechnung der gebräuchlichen Gelenke vgl. Auflager, Bd. 1, S. 354, andre Anordnungen s. Gelenkkonstruktion, Gelenkverbindung und [12].

In erster Linie werden Gelenke angewendet, um den Angriffspunkt der Stützenreaktionen oder der Reaktionen verschiedener Trägerstücke (Scheiben) gegeneinander möglichst wenig wechseln zu lassen. Dies kann schon mit Rücklicht auf die Tragfähigkeit und zuverlässigere Berechnung der Stützen geboten sein, von besonderer Wichtigkeit aber erwies sich die Anordnung von Gelenken, wenn es lieh darum handelte, Trägerarten, deren Stützenreaktionen durch Beziehungen der reinen Statik allein nicht bestimmbar waren, in statisch bestimmte Trägerarten oder in solche von geringerer statischer Unbestimmtheit zu verwandeln (vgl. Träger). Hierdurch konnte die Berechnung der betreffenden Träger einfacher und zuverlässiger gestaltet, der Einfluß gewisser Temperaturänderungen und kleiner Stützenbewegungen verringert oder ausgeschlossen (letzteres bei statisch bestimmten Trägerarten) und im Zusammenhang damit auch eine Materialersparnis erreicht werden.

Aus diesen allgemeinen Gesichtspunkten, welche von Beginn der sechziger Jahre an besonders von Köpcke und nach ihm von Ritter vertreten wurden [1], [2], [11], [12], [21], haben seither Endgelenke und Zwischengelenke bei Balken, Bogen und Hängebrücken in wachsendem Maße Verwendung gefunden (s. Gelenkträger, Bogen, einfache und durchlaufende, Hängebrücken, feste, u.s.w.). Vereinzelte Mißerfolge, wie mit den Dreigelenkbogen der früheren Moltkebrücke in Berlin [6] und der Maximilianbrücke in München [30] gaben Veranlassung, der Anwendbarkeit, Anordnung und Einbringung der Gelenke unter verschiedenen Verhältnissen mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Wie groß bei eisernen Brücken der Einfluß gewisser Gelenke unter Umständen werden kann, geht z.B. daraus hervor, daß die gegenwärtigen Querschnitte der älteren Coblenzer Brücke, der ersten Fachwerkbogen mit Endgelenken, bei festgespannten Enden nicht einmal gegenüber den Temperaturänderungen allein ohne Ueberschreitung der zugelassenen Beanspruchungen genügen würden [24], S. 121. 1880 wurde durch Köpcke das erste Gewölbe mit Gelenken ausgeführt [11], und zwar bei einer Eisenbahnbrücke. Die Gelenkwirkung war hierbei in der Weise angenommen, daß der letzte Gewölbequader eine etwas stärkere Krümmung nach außen als der anschließende Kämpfer nach innen erhielt, wie dies später mehrfach, selbst in Beton (Deutsche Bauzeitung 1896, S. 155, 310, und [31], 1. Abt., S. 299) zur Ausführung kam. Bei den in Württemberg durch Präsident v. Leibbrand bis zu 50 m Spannweite ausgeführten Gewölben mit drei Gelenken sind letztere entweder durch Bleiplatten in den Mitten der Scheitelfugen und Kämpferfugen [10] oder durch mit gleichem Radius aufeinander gearbeitete Stahlschienen gebildet [17]. Alle diese Gelenke wurden mit Zementmörtel vergossen, nachdem das Gewölbe unter der Einwirkung des Eigengewichts zur Ruhe gekommen war Dies sollte Gewähr dafür bieten, daß die Gelenke unversehrt blieben, nachdem sie dem überwiegenden[358] Einflusse des Eigengewichts gegenüber ihre Dienste geteilte: hatten. Daran anschließend wurde durch Landesbaurat Leibbrand in Sigmaringen das erste Gewölbe mit offenen Metallgelenken ausgeführt [18] (Donaubrücke bei Inzigkofen, 43 m Spannweite, Gelenke aus Gußeisen). Das bedeutendste hierhergehörige Bauwerk bildet die neuestens dem Verkehr übergebene Wallstraßenbrücke über die Donau in Ulm (Lichtweite 65,45 m, Spannweite zwischen den vorgekragten Gelenken aus Martinstahl 57 m [32]). S.a. Brücken, steinerne, Bd. 2, S. 346.

Neben den bis jetzt erwähnten Gelenken kommen solche in den Knotenpunkten von Fachwerken vor. Dieselben wurden früher in Amerika allgemein angewandt (vgl. [3], [15], [16]), wobei in erster Linie die leichtere Aufstellung der Bolzenbrücken angesichts der oft bedeutenden Entfernung von der Brückenbauanstalt in Betracht kam. In Deutschland sind Knotengelenke von Fachwerken in den siebziger Jahren durch Gerber eingeführt und ausgebildet worden [7] wobei aber besonders die möglichste Vermeidung von Biegungsspannungen maßgebend war Derartige Nebenspannungen (s.d.) entstehen, wenn die resultierenden Stabkräfte nicht wie bei reibungslosen Gelenken in den Stabachsen wirken. Dem Einwände, daß auch bei reibenden Gelenken nicht unbedeutende Nebenspannungen auftreten können, wurde entgegengehalten, die Reibung werde wohl durch Stöße und Erschütterungen nach und nach so weit überwunden, daß bei der Belastung durch das Eigengewicht allein nahezu axiale Stabkräfte wirken, womit die Nebenspannnungen nur noch der Verkehrslast entsprächen. Auch Gerber bemerkte, »daß die Fachwerkträger mit Gelenkknotenverbindungen nach der Montierung nicht sofort die normale Lage annahmen, sondern erst nachdem eine verhältnismäßige Last, welche Erschütterung in dem Träger bewirkt, über denselben geführt wurde«. Einige Versuche über die Knotengelenke wurden bei der Probebelastung der Eisenbahnbrücke bei Waltenhofen in Bayern angestellt [8], ohne zu einem abschließenden Resultate zu führen. Bei gedrückten Stäben könnte übrigens eine Vergrößerung der fraglichen Nebenspannungen schon durch die größere Knickfestigkeit (s.d.) infolge der Einspannung aufgewogen werden.

Gerber hat auch bereits 1878 gelenkartige Anschlüsse der sekundären Längsträger an die Querträger angewandt, um den ungünstigen Einfluß der Vernietungen auf die letzteren zu vermeiden [7], S. 544. Dem gleichen Streben nach Vermeidung von Nebenspannungen in den anschließenden Trägern sind die gelenkartigen Auflager der Querträger und die von den Hauptträgern unabhängige Längsverschiebbarkeit der Fahrbahn entsprungen [13], [14], [19], [23]. Nach Beobachtungen bei Belastungsproben mit größeren Brücken der Sibirischen Bahn, deren Querträger auf Stahlbolzen lagen [20], waren Biegungsspannungen in den Vertikalständern der Hauptträger nicht nachweisbar, während Versuche an einer Petersburger Brücke mit Nietanschlüssen der Querträger solche Biegungsspannungen ergeben hatten. Selbstverständlich hat man in allen diesen Fällen genügender Steifigkeit der Brücke besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.


Literatur: [1] Köpcke, Ueber die Konstruktion einer steifen Hängebrücke, Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1860, S. 346 (auch 1861, S. 231, und 1888, S. 30). – [2] Ritter, A., Elementare Theorie und Berechnung eiserner Dach- und Brückenkonstruktionen, Hannover 1863, S. 93, 136, 146, 170, 187. – [3] Gleim, Der amerikanische Brückenbau der Neuzeit, Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1876, S. 73, 255,395. – [4] Winkler, Lage der Stützlinie im Gewölbe, Deutsche Bauztg. 1880, S. 58, 184, 210, 243 (s. S. 59). – [5] Winkler, Zur Beurteilung der Gelenkknotenverbindungen eiserner Brücken, Deutsche Bauztg. 1880, S. 350, 533. – [6] Die Moltkebrücke über die Unterspree in Berlin, Deutsche Bauztg. 1881, S. 351, 484; 1885, S. 525. – [7] Gerber, Notizen über Eisenkonstruktionen mit Gelenkverbindungen, Zeitschr. f. Baukunde 1882, S. 542. – [8] Manderla, Ueber die Wirkungsweise gelenkartiger Knotenverbindungen, Allgem. Bauztg. 1886, S. 9, 20, 32, 37. – [9] Backhaus, Allgemeine Betrachtungen über die Gelenkkonstruktionen eiserner Bogenbrücken, Zeitschr. des Vereines deutscher Ingenieure 1886, S. 741. – [10] Leibbrand, v., Steinbrücken mit gelenkartigen Einlagen, Zeitschr. f. Bauwesen 1888, S. 237 (s.a. 1893, S. 439). – [11] Köpcke, Ueber die Verwendung von drei Gelenken in Steingewölben, Zeitschr. d. Arch.- u. Ingen.-Vereins zu Hannover 1888, S. 373. – [12] Köpcke, Ueber Gelenkbildungen für Brückenkonstruktionen, Zeitschr. d. Arch.- u. Ingen.-Vereins zu Hannover 1889, S. 167. – [13] Rieppel, Eisenbahnbrücke über die Donau bei Steinbach, Zeitschr. des Vereines deutscher Ingenieure 1890, S. 193. – [14] Bridge over the river Belaja (Samara-Ufa-Railway, Russia), Engineering 1890, L, S. 95. – [15] Steiner, Reisebericht, betreffend eine Studienfahrt in den Vereinigten Staaten, Technische Blätter 1893–94. – [16] Ritter, W., Der Brückenbau in den Vereinigten Staaten Amerikas, Bern 1894 (Auszug Schweiz. Bauztg. 1894, XXIV, S. 165). – [17] Leibbrand, v., Betonbrücke über die Donau bei Munderkingen, Zeitschr. f. Bauwesen 1894, S. 541. – [18] Leibbrand, Donaubrücke bei Inzigkofen in Hohenzollern, Zeitschr. f. Bauwesen 1895, S. 279. – [19] Talansier, Le pont de la rue de Tolbiac, Le Génie civil 1895, XXVI, S. 305. – [20] Die Brücken der Sibirischen Eisenbahn, Zentralblatt der Bauverwaltung 1896, S. 434. – [21] Köpcke, Gewölbte Brücken mit drei Gelenken, Zeitschr. f. Architektur und Ingenieurwesen 1896, S. 257. – [22] Reihling, Stein- und Betonbrücken mit gelenkartigen Einlagen, Zeitschr. f. Architektur und Ingenieurwesen 1896, S. 49. – [23] Häseler, Der Brückenbau, 1. Teil, 3. Lief., Braunschweig 1897, S. 254, 311; 4. Lief., 1900, S. 516. – [24] Weyrauch, Die elastischen Bogenträger, ihre Theorie und Berechnung entsprechend den Bedürfnissen der Praxis, München 1897, S. 50, 58, 77, 121 u.s.w. – [25] Gaedertz, Betonbrücke mit Granitgelenken über die Eyach bei Imnau, Zeitschr. f. Bauwesen 1898, S. 187. – [26] Probst, Einiges über Gelenke massiver Bogenbrücken, Zeitschr. f. Architektur und Ingenieurwesen, Wochenausg., 1899, S. 546. – [27] Mörsch, Nebenspannungen in Brückengewölben mit drei Gelenken, Zeitschr. f. Architektur und Ingenieurwesen 1900, S. 193. – [28] Föppl, Reibung in Brückengelenken (Einfluß von Schmiermitteln), Zentralblatt der Bauverwaltung 1901, S. 197. – [29] Leibbrand, Die Neckarbrücke bei Neckarhausen, Zeitschr. f. Bauwesen 1903, S. 455. – [30] Dietz, Der Bauunfall der äußeren Maximilianbrücke in München, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1904, S. 1407. – [31] Handbuch der Ingenieurwissenschaften,[359] 2. Teil, Der Brückenbau, 1. Abt., Leipzig 1904, S. 88,218; 5. Abt., 1906, S. 1, 382 u.s.w. – [32] Wallstraßenbrücke in Ulm, Bauzeitung für Württemberg u.s.w. 1906, S. 58, 139.

Weyrauch.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 358-360.
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