Fall [1]

[296] Fall, die Bewegung eines Körpers gegen die Erde hin infolge der Schwere. Da die Schwere unausgesetzt mit gleichbleibender Stärke auf den fallenden Körper wirkt, so vermehrt sie dessen Geschwindigkeit in gleichen Zeiten um gleichviel; die Bewegung eines frei fallenden Körpers ist demnach eine gleichförmig beschleunigte. Die Geschwindigkeitszunahme während einer Sekunde oder die Beschleunigung der Schwere beträgt 9,8 m (genauer für Berlin 9,8125 m). Läßt man daher einen Stein fallen, so wächst seine Geschwindigkeit, die im Augenblick des Loslassens Null war, gleichmäßig mit der Zeit und erreicht am Ende der ersten Fallsekunde den Betrag von 9,8 m, d. h. der Stein würde, wenn am Ende der ersten Sekunde die Schwere aufhörte auf ihn zu wirken, vermöge seiner Trägheit in jeder folgenden Sekunde in gleichförmiger Bewegung einen Weg von 9,8 m zurücklegen. Da aber die Schwere in der zweiten Sekunde ebenso auf ihn einwirkt wie in der ersten, so beträgt seine Geschwindigkeit am Ende der zweiten Fallsekunde 2 × 9,8 = 19,6 m und entsprechend nach 10 Sekunden 10 × 9,8 = 98 m. Erstes Fallgesetz: die Fallgeschwindigkeiten wachsen in demselben Verhältnis wie die Fallzeiten, oder die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers ist der verflossenen Fallzeit proportional. Bezeichnen wir die Geschwindigkeit mit v, die Beschleunigung mit g und die Anzahl der seit Beginn des Fallens vergangenen Sekunden mit t, so ist v = gt. Kann man hierdurch die Geschwindigkeit des fallenden Körpers für jeden Augenblick angeben, d. h. den Weg, den er von diesem Augenblick an in der darauffolgenden Sekunde zurücklegen würde, wenn von da an seine Geschwindigkeit sich nicht mehr änderte, so kennt man damit noch nicht den Fallraum, d. h. den Weg, den der fallende Körper mit seiner von Augenblick zu Augenblick veränderlichen Geschwindigkeit wirklich zurückgelegt hat. Da nun aber die Geschwindigkeit des fallenden Körpers gleichmäßig, d. h. in gleichen Zeiten um gleichviel wächst, so muß er in einem gegebenen Zeitraum denselben Weg durchlaufen, den er in derselben Zeit mit einer unverändert gleichbleibenden Geschwindigkeit zurücklegen würde, die zwischen den Geschwindigkeiten, die er am Anfang und am Ende jenes Zeitraums hatte, gerade in der Mitte liegt, oder mit der Geschwindigkeit, die er in der Mitte dieses Zeitraums einen Augen blick besaß. Am Anfang der ersten Sekunde, als er seinen F. begann, war seine Geschwindigkeit Null, am Ende der ersten Sekunde betrug sie 9,8 m; die mittlere oder durchschnittliche Geschwindigkeit der ersten Fallsekunde ist demnach 4,9 m, und tatsächlich legt der fallende Körper in der ersten Sekunde einen Weg von 4,9 m zurück. Der Fallraum der ersten Sekunde wird also angegeben durch die halbe Beschleunigung (0,5 g). Betrachten wir die zwei ersten Fallsekunden, so ist die Anfangsgeschwindigkeit wieder Null, die Endgeschwindigkeit 2 × 9,8 = 19,6 m, die mittlere Geschwindigkeit also 9,8 m; mit dieser 2 Sekunden lang dahineilend, würde der Körper einen Weg von 2 × 9,8 = 19,6 = 4 × 4,9 m durchlaufen, der viermal so groß ist als der in der ersten Sekunde zurückgelegte Weg. Für die drei ersten Fallsekunden ist der Fallraum 44,1 = 9 × 4,9 m, also neunmal so groß als derjenige der ersten Sekunde, und so ergibt sich das zweite Fallgesetz: die Fallräume verhalten sich wie die Quadrate der Fallzeiten. Bezeichnen wir den in t Sekunden zurückgelegten Fallraum mit s, so ist, da der Fallraum in der ersten Sekunde 1/2 g beträgt, s = 1/2gt2, d. h. man findet den Fallraum, wenn man die halbe Beschleunigung der Schwere (4,9 m) mit der ins Quadrat erhobenen Anzahl der Fallsekunden multipliziert. Hätte man z. B. gefunden, daß ein in einen Brunnenschacht fallen gelassener Stein nach 2,5 Sekunden auf die Wasseroberfläche aufschlägt, so ist dse Tiefe des Brunnens gleich der Fallhöhe des Steines = 4,9 × 2,5 × 2,5 = 4,9 × 6,25 = 30,625 m. Man kann das zweite Fallgesetz auch noch etwas anders aussprechen, indem man die Fallräume angibt, die in den einzelnen aufeinander folgenden Sekunden durchlaufen werden; diese sind aber offenbar 1/2 g, 1/2 g × 3, 1/2 g × 5, 1/2 g × 7..., d. h. die Fallräume, die der Körper in den einzelnen Sekunden durchläuft, verhalten sich wie die Reihe der ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7, 9... Durch diese beiden Gesetze ist die Fallbewegung in erschöpfender Weise gekennzeichnet. Fragt man z. B. nach der Geschwindigkeit, die ein von gegebener Höhe herabgefallener Körper besitzt, so ergibt sich, da nach dem ersten Gesetz die Geschwindigkeiten sich wie die Fallzeiten, nach dem zweiten aber die Fallräume sich wie die Quadrate der Fallzeiten verhalten, daß sich die Fallräume wie die Quadrate der erlangten Geschwindigkeiten verhalten müssen, und daß insbes. das Quadrat der Geschwindigkeit (v), die ein von irgend einer Höhe (s) herabgefallener Körper unten angekommen besitzt, erhalten wird, wenn man die doppelte Beschleunigung mit der Fallhöhe multipliziert, d. h. man hat v2 = 2 gs, oder, was dasselbe ist, v = √2gs. Umgekehrt wird die Höhe, von der ein Körper herabfallen muß, um eine gegebene Geschwindigkeit zu erlangen, gefunden, wenn man das Quadrat dieser Geschwindigkeit durch die doppelte Beschleunigung dividiert, d. h. es ist s = v2/2g.

Dem freien F. gegenüber steht der F. auf vorgeschriebener Bahn, wenn der fallende Körper genötigt ist, auf einem durch äußere Bedingungen erzwungenen Wege herabzusinken. Das einfachste Beispiel bietet der F. längs einer schiefen Ebene (s.d.); die Bewegung ist auch hier, wie beim freien F., eine gleichmäßig beschleunigte, nur ist die Beschleunigung, weil die treibende Kraft im Verhältnis der Höhe (b) zur Länge (l) der schiefen Ebene geringer ist als beim freien F., nur g.h/1 oder, wenn α den Neigungswinkel der schiefen Ebene gegen die horizontale bedeutet, g sin α. Ein Körper, der längs einer schiefen Ebene herabrollt, besitzt, unten angekommen, dieselbe Geschwindigkeit und demnach auch dieselbe Wucht (lebendige Kraft), als wenn er bis zu derselben Tiefe frei herabgefallen wäre, da dort wie hier das Quadrat der erlangten Geschwindigkeit durch das doppelte Produkt aus Beschleunigung und Weglänge dargestellt wird, längs der schiefen Ebene aber die Weglänge ebensovielmal größer als die Beschleunigung kleiner ist. Da man jede krumme Linie als eine Aufeinanderfolge von unendlich vielen unendlich kurzen geraden Linien ansehen kann, so gilt derselbe Satz auch für jede beliebige krummlinige Bahn; die Geschwindigkeit, die der fallende Körper in jedem Punkt seiner Bahn besitzt, ist immer dieselbe wie die, welche er durch den freien vertikalen F. von derselben Höhe erlangt haben würde, und hängt sonach nicht von der Länge des durchlaufenen Weges, sondern nur von dem Niveauunterschied zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkte der Bewegung ab. Aus den Fallgesetzen längs der schiefen Ebene folgt auch der von Galilei aufgestellte Satz, daß alle Sehnen des Kreises, die nach seinem tiefsten Punkt gehen oder von seinem höchsten Punkt ausgehen,[296] in derselben Zeit durchfallen werden. Obgleich die gerade Linie die kürzeste ist, die zwischen zwei Punkten gezogen werden kann, so ist sie doch nicht die Linie des schnellsten Falles, diese ist vielmehr, wie Huygens zuerst gezeigt hat, die Zykloide (s.d.). Auf der Zykloide gelangt auch ein fallender Körper, von welchem ihrer Punkte er auch ausgehen mag, stets in derselben Zeit an den tiefsten Punkt. Wegen jener Eigenschaft heißt die Zykloide Brachistochrone (Linie kürzester Fallzeit), wegen dieser Tautochrone (Linie gleicher Fallzeit). Auf letztere Eigenschaft hat Huygens sein Zykloidenpendel gegründet, dessen Schwingungen bei beliebiger Schwingungsweite stets von gleicher Dauer sind, das aber wegen technischer Schwierigkeiten keine praktische Anwendung fand. Auch das gewöhnliche Pendel bietet ein Beispiel des Fallens längs vorgeschriebener Bahn (längs eines Kreisbogens).

In der Luft erleidet jeder bewegte Körper einen Widerstand, der um so größer ist, eine je größere Oberfläche, senkrecht zur Bewegungsrichtung gerechnet, der Körper darbietet. Flaumfedern, Schneeflocken, Seifenblasen und andre Körper, deren Oberfläche im Verhältnis zu ihrem Gewicht sehr groß ist, fallen viel langsamer als Steine, Metallstücke u. dgl. Ein Talerstück erreicht den Boden beträchtlich früher als ein gleichzeitig fallendes, gleichgroßes rundes Papierstück. Legt man aber die Papierscheibe auf die Münze und läßt beide zugleich, die letztere voran, herabfallen, so kommen beide gleichzeitig am Boden an, weil jetzt auf das Papierstück, vor dem die fallende Münze die Luft gleichsam hinwegräumt, der Luftwiderstand nicht wirken kann. In einem luftleeren Glasrohr (Fallröhre) fallen eine Flaumfeder, Papierschnitzel und Schrotkörner, also leichte und schwere Körper, mit gleicher Geschwindigkeit. Da aber ein Kilogrammgewichtsstück im luftleeren Raum mit derselben Beschleunigung fällt wie ein Grammgewicht, obgleich die Kraft, die jenes zu Boden zieht, tausendmal größer ist als die Kraft, die auf letzteres wirkt, so müssen wir schließen, daß auch die in jenem enthaltene Masse, die vermöge ihrer Trägheit der beschleunigenden Kraft widersteht, tausendmal größer ist als in diesem, oder daß die Massen der Körper in demselben Verhältnis stehen wie ihre Gewichte (vgl. Gravitation und Schwere).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 296-297.
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296 | 297
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