Humanität

[628] Humanität (lat. humanĭtas, »Menschlichkeit«) bedeutete schon bei den Alten, namentlich bei Cicero, vorzugsweise die harmonische Ausbildung der dem Menschen als solchem eignen Anlagen des Gemüts und des Verstandes. Eine solche höhere und feinere Bildung des Geistes konnte in Rom nur durch Vertrautheit mit den Werken der großen griechischen Dichter und Schriftsteller gewonnen werden. Daher nimmt schon bei Cicero das Wort den Nebensinn der literarisch-ästhetischen, also wesentlich formalen Bildung an. Im Mittelalter waren vollends die Überreste der altklassischen Literatur, zumal der lateinischen, die einzige Quelle, aus der eine solche Bildung zu schöpfen war. Humaniora (studia humaniora) nannte man deshalb die philologischen Lehrfächer und Humanismus diejenige Weise der gelehrten Erziehung, welche die Schriften der Alten als das wesentlichste Bildungsmittel benutzte. Dieses Erziehungssystem gelangte zuerst durch Dante, Boccaccio, Petrarca u. a. in Italien zu umfassenderer Geltung und von dort aus mit dem sogen. Wiedererwachen der Künste und Wissenschaften (rinascimento, renaissance) seit etwa 1450 zur allgemeinen Herrschaft im Abendland. Seine Ve treter nannten sich im Gegensatz zu den Scholastikern Humanisten (Weiteres s. Humanismus und Humanisten). Die von ihnen und unter ihrem Einfluß gegründeten Anstalten, in Deutschland meist zugleich Pflegstätten der Kirchenverbesserung, blühten bis gegen Ende des 16. Jahrh., verfielen aber nach und nach geistlosem und pedantischem Formalismus. Daher traten schon vom Ausgang des 16. Jahrh. an einzelne tiefer blickende Männer gegen den einseitigen Humanismus polemisch auf, so Montaigne in Frankreich, Bacon in England, Ratichius u. a. in Deutschland, Comenius in Polen (Lissa), Preußen (Elbing) und Holland. Auch die pietistischen Kreise waren der ausschließlichen Herrschaft des Lateins in den Schulen und der einseitigen, dem wirklichen Leben abgewandten Beschäftigung mit dem Altertum abgeneigt. Aus den Anregungen A. H. Franckes (s. d.) und seiner Schüler gingen zuerst Realschulen (s. d.) in Deutschland hervor, die im Gegensatz zu der rein sprachlichen und logischen (formalen) Bildung der Gymnasien auch reale Bildung durch Bekanntschaft mit den Gegenständen und Vorgängen der Natur wie des wirklichen Lebens pflegen sollten. Die sogen. Philanthropen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. stellten sich fast ausschließlich auf die Seite dieser realistischen Bildung. Der durch sie hervorgerufene Streit zwischen Gymnasium und Realschule, humanistischer und realistischer Bildung dauert in seinen letzten Ausläufern noch fort. Doch fehlt es nicht an einer besonnenen Mitte, deren Vertreter anerkennen, daß die Bedürfnisse des gegenwärtigen Lebens ihre Berücksichtigung zumal in der Naturwissenschaft und den neuern Sprachen verlangen, und zwar für gewisse Lebenskreise vorzugsweise, ohne daß sie darum den hohen Wert der klassisch-humanistischen Schulung für die Fähigkeit, klar und gründtich zu denken und das klar Gedachte in edler Form wiederzugeben, sowie namentlich für die Einsicht in den geschichtlichen Zusammenhang der Entwickelung des menschlichen Geistes verkennen. Als Vorbild für diese Auffassung kann im wesentlichen noch heute Herder (besonders »Briefe zur Beförderung der H.«) gelten. Vgl. Stahlberg, Die H. (Prenzlau 1895); Schneidewin, Die antike H. (Berl. 1897) Weiteres s. in den Artikeln »Pädagogik, Gymnasium und Philologie

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 628.
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