Lebenskraft

[285] Lebenskraft. Wie man in der Gegenwart noch nicht imstande ist, alle Lebensvorgänge durch die auch in der unbelebten Natur herrschenden chemischen und physikalischen Gesetze zu erklären (vgl. Leben), so war dies vor Jahrhunderten noch weit weniger möglich. Man sah sich deshalb nach andern Erklärungsgründen für die Erscheinungen der organischen Natur um, da man doch auch auf diesem Gebiet eine strenge Gesetzmäßigkeit nicht verkennen konnte. In frühern Jahrhunderten nahm man sogen. Lebensgeister (spiritus vitales s. animales) an, welche die Aufgabe haben sollten, die Verrichtungen des Lebens zu besorgen. Später wurde der wachsende Organismus für das Werk einer unbewußt bildenden Keimseele ausgegeben, der man einen eignen nisus formativus oder Bildungstrieb (s. d.) zuschrieb. Als diese Erklärung nicht mehr Stich halten wollte, nahm man Lebenskräfte oder auch nur eine L. (vis vitalis) an. Autenrieth hielt die L. sogar für eine von der Materie ablösbare selbständige Kraft. Die neuere Physiologie hat den Begriff der L. als einer von den übrigen, auch in der unbelebten Natur herrschenden Kräften verschiedenen Energieform ganz aufgegeben. Sie betrachtet im Gegensatz zu den »Vitalisten« das Leben nicht als Ursache, sondern als das Produkt eines Systems von Bedingungen und Mitteln, die nach denselben mechanischen, physikalischen und chemischen Gesetzen wirken, die in der übrigen Natur gelten, so daß die eigentümliche Gesamtwirkung, wegen deren wir Belebtes von Unbelebtem unterscheiden, nicht von einer Verschiedenheit der Kräfte und Gesetze, sondern von einer Verschiedenheit der in den Organismen dargebotenen Angriffspunkte für diese Kräfte abhängt. Diese Auffassung der Lebenserscheinungen nennt man die mechanistische, im Gegensatz zu der früher herrschenden dynamistischen. Sie macht den Versuch, die Gesetze des Lebens mit den sonst bekannten Naturgesetzen in Übereinstimmung zu bringen und empfiehlt sich nicht bloß von vornherein durch ihre größere Wahrscheinlichkeit und Einfachheit, sondern sie wird auch durch den ganzen Entwickelungsgang der Wissenschaft fast zur Gewißheit erhoben. Dieser zeigt nämlich auf das unzweideutigste, daß ganz proportional der Vertiefung der Forschung die Hypothese von der L. an Boden verloren hat. Vgl. Lotze, Über Leben und L. (in Wagners »Handwörterbuch der [285] Physiologie«, Bd. 1, Braunschw. 1842); Du Bois-Reymond, Über die L. (in den »Reden«, 2. Folge, Leipz. 1887); Helmholtz, Das Denken in der Medizin (u. Aufl., Berl. 1878), und Art. »Neovitalismus«.

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 285-286.
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