Neovitalismus

[513] Neovitalismus (lat., »neue Lebenskraftlehre«), Wiederaufnahme des dem ältern Vitalismus zugrunde liegenden Gedankens, daß im lebenden Körper noch andre Kräfte wirksam seien und andre Gesetze herrschen als außerhalb desselben. Die von Descartes und Leibniz angebahnte, von Rob. Mayer, Helmholtz, Clausius, Thomson u.a. gestützte mechanistische Weltanschauung, die mit dem Gesetz von der Einheit der Naturkräfte rechnet, hatte der schon von Schwann, Schleiden, Du Bois-Reymond u.a. bekämpften Lehre von der Lebenskraft (s. d.) scheinbar völlig das Lebenslicht ausgeblasen. Aber schon seit einer Reihe von Jahren erhoben sich neue Angriffe gegen dieses System der Naturerklärung, das nur mit Atomen und sie bewegenden Kräften rechnet. Gleich dem ältern Vitalismus stützt sich auch der N. auf die Tatsache, daß trotz aller Fortschritte der neuern Naturwissenschaft das eigentliche Wesen der Lebensvorgänge noch unerklärt geblieben ist. Namentlich sieht er N. in dem zweckmäßigen Verlauf der Lebens- und Entwickelungsvorgänge eine unüberwindliche Schwierigkeit für ein nur auf mechanische Ursachen sich gründendes Verständnis derselben. Hiervon ausgehend, gelangten der Botaniker J. v. Hanstein (»Der Zweckbegriff in der organischen Natur«, Bonn 1880, und »Das Protoplasma«, Heidelb. 1880) und der Chemiker und Physiolog Bunge (»Lehrbuch der physiologischen Chemie«, Leipz. 1887) zur Annahme eines besondern, in der anorganischen Natur unbekannten Prinzips. Der Patholog Rindfleisch (Würzburg) begründete in seiner Rektoratsrede über »Ärztliche Philosophie« (1888), an Virchows Zellenlehre anknüpfend, den N. und verteidigte ihn auf der Naturforscherversammlung in Lübeck (1895) gegen die Einwürfe, die Du Bois-Reymond in einer am Leibniztage 1894 gehaltenen akademischen Rede über »Vitalismus und N.« dagegen erhoben hatte. Rindfleisch spielte hierbei im besondern das Problem des Selbstbewußtseins aus, an dessen naturwissenschaftlicher Erkenntnis sein Gegner früher verzweifelt hatte (s. Ignorabimus), und bezeichnete die lebenden Wesen als in ähnlicher Weise sich selbstbewegende und selbstbestimmende Wesen wie das Weltall als Ganzes. Ihm war schon früher der Zoolog Driesch (»Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft«, Leipz. 1893) beigetreten, der die mechanistische Weltanschauung als für das Verständnis der Entwickelungsmechanik unzureichend bezeichnet hatte, während Ostwald-Leipzig (ebenfalls auf der Lübecker Naturforscherversammlung) in einer Rede über »Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus« (Leipz. 1895) zu zeigen suchte, daß die in gewissen Richtungen versagende Verwandlungsfähigkeit der Naturkräfte, wie z. B. der Wärme (s. Entropie), die stets nur in einer Richtung erfolgende Entwickelung vieler Prozesse, z. B. die der lebenerhaltenden Sonnenenergie, die sich im Weltraum zerstreut, ohne daß wir die Möglichkeit einer Wiedersammlung erkennen, zeige, daß die mathematischen Formeln, welche die Vertauschung des Zeichens der Zeitgröße gestatten, unanwendbar auf die Weltentwickelung seien, denn das Kind könne sich wohl zum Mann, aber der Mann nicht wieder zum Kind entwickeln. An die Stelle der mechanistischen Weltanschauung müsse daher die energetische treten, die nur mit Kräften rechne und die Materie selbst nur als das Produkt einer Reihe zusammenwirkender Kräfte auffasse. Das besonders in den Organismen wirkende Prinzip wird von einigen als eine besondere Naturkraft gedacht, welche die Lebens- und Entwickelungsvorgänge nach Zeit und Ort beherrscht (Gestaltsamkeit J. v. Hansteins, Dominanten Reinkes, Entelechien Driesch' im Anschluß an die aristotelische Terminologie), bald als eine allem lebenden Protoplasma zukommende transzendente psychische Fähigkeit von nicht näher zu ermittelndem Wesen (Bunge, Neumeister, K. C. Schneider), bald als an keine Materie gebundenes, unbewußtes, metaphysisches Prinzip (E. v. Hartmann). Noch andre Vertreter des N. (Wolff, Rindfleisch) haben sich gar nicht näher über die Art des von ihnen postulierten vitalen Prinzips geäußert. Außer den oben angeführten Schriften vgl. Reinke, Einleitung in die theoretische Biologie (Berl. 1901); Bütschli, Mechanismus und Vitalismus (Leipz. 1901); Driesch, Die[513] Seele (Leipz. 1903); Neumeister, Betrachtungen über das Wesen der Lebenserscheinungen (Jena 1903); K. C. Schneider, Vitalismus (Wien 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 513-514.
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