Notstand

[819] Notstand, im allgemeinen jeder Zustand der Bedrängnis, im strafrechtlichen Sinn insbes. der Zustand der Gefahr, aus der sich jemand nur durch einen Eingriff in das Recht eines andern retten kann. Schon die peinliche Gerichtsordnung Karls V. erklärt denjenigen, der Lebensmittel stehle, um sich und die Seinen vom Hungertod zu erretten, für straffrei; die moderne Strafgesetzgebung nimmt für den N. überhaupt Straflosigkeit an, das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (§ 54) jedoch nur dann, wenn es sich um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben des Täters selbst oder eines seiner Angehörigen (s. d.) handelt. Außerdem muß die Gefahr unverschuldet und die Rettung aus derselben nicht anders zu ermöglichen sein als durch eine Handlung, die sich an und für sich als Rechtsverletzung charakterisiert. Von der sogen. Notwehr (s. d.) unterscheidet sich der N. dadurch, daß es sich bei jener um die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs handelt, während der Strafausschließungsgrund des Notstandes gerade demjenigen zugute kommt, der, um sich zu retten, einen Eingriff in eine fremde Rechtssphäre unternimmt. Wenn z. B. jemand nach mir schießen will, und ich verteidige mich gegen ihn, so bin ich im Zustande der Notwehr. Kann ich mich hier aber nicht anders retten als dadurch, daß ich eine neben mir stehende Person vor mich hinschiebe, so daß diese von dem Schuß getroffen wird, so bin ich straflos, weil ich im N. so handelte. Die Notwehr erscheint als ein Recht, der N. lediglich als ein tatsächlicher Zustand. Mit Unrecht bezeichnen daher manche den N. als sogen. Notrecht, denn die Not gibt uns kein Recht, andre zu verletzen. Der Grund, warum der N. die Strafe ausschließt, ist vielmehr die Rücksicht auf den Selbsterhaltungstrieb des Menschen und der Umstand, daß ein gewisser Heroismus dazu gehört, in der Not lieber unterzugehen oder doch Schaden zu erleiden, als sich die Verletzung eines fremden Rechtes schuldig zu machen. Vom Standpunkte der Moral mag dies freilich als geboten erscheinen; aber der Gesetzgeber kann eine solche Standhaftigkeit und Charakterstärke, die[819] über die gewöhnlichen menschlichen Kräfte hinausgehen würde, in der Regel nicht verlangen. Anders liegt die Sache freilich, wenn der Betreffende durch Beruf und Stellung dazu verpflichtet ist, wie sich denn z. B. der Soldat im Krieg und der Seemann aus einer Seegefahr nicht auf Kosten andrer erretten dürfen. Nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§ 52) ist es endlich ein vom N. verschiedener Strafausschließungsgrund, wenn der Täter zu einer sonst strafbaren Handlung durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung gegen Leib oder Leben genötigt wurde. Vgl. Janka, Der strafrechtliche N. (Erlang. 1878); Stammler, Die strafrechtliche Bedeutung des Notstandes (das. 1878). – Zivilrechtlicher N. liegt vor, wenn jemand durch eine fremde Sache Gefahr droht und er oder ein Dritter sie beschädigt oder zerstört, um die Gefahr von sich oder einem andern abzuwenden. Ist diese Beschädigung oder Zerstörung zur Abwehr der Gefahr erforderlich und steht der hierdurch verursachte Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr, so können keine Schadenersatzansprüche gemacht werden. Hat der Bedrohte jedoch die Gefahr selbst verschuldet, so ist er schadenersatzpflichtig (§ 228 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Hiervon unterscheidet sich die sogen. Nothilfe (auch Notangriff genannt), die darin besteht, daß jemand, um sich vor einer drohenden Gefahr zu schützen, auf die einem andern gehörige Sache einwirkt (z. B. sie gebraucht, beschädigt, ja vernichtet). Soweit der dadurch entstehende Schaden nicht unverhältnismäßig größer ist als der dem Einwirkenden drohende Schaden, muß sich der Eigentümer der Sache die Nothilfe gefallen lassen, jedoch kann er Ersatz des Schadens verlangen (§ 904 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Beim N. droht also die Gefahr von der Sache selbst, auf die eingewirkt wird, bei der Nothilfe dagegen von einer andern Seite. Werde ich von einem Hund angegriffen und schieße ihn nieder, so liegt N. vor, schlage ich bei meiner Anwesenheit in einem fremden Haus ein Fenster ein, um mich vor einem wütenden Hund zu flüchten, so liegt Nothilfe vor. Unter Nothilfe versteht man außerdem den Beistand, den man seinem Nebenmenschen bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr, d.h. eine Gefahr von unbestimmter Ausdehnung und Tragweite für Personen oder Eigentum (z. B. Brand, Überschwemmung etc.) zu leisten hat. Wer in einem solchen Falle, von der Polizeibehörde oder dem Stellvertreter zur Hilfe aufgefordert, keine Folge leistet, obgleich er der Aufforderung ohne erhebliche eigne Gefahr genügen kann, wird mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder mit Hast bis zu sechs Wochen bestraft (Reichsstrafgesetzbuch, § 360, Ziff. 10). S. auch Selbsthilfe. Vgl. Titze, Die Notstandsrechte im deutschen bürgerlichen Recht etc. (Berl. 1897); Auer, Der strafrechtliche N. und das Bürgerliche Gesetzbuch (Münch. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 819-820.
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