Rätĭen

[615] Rätĭen (Raetia), altröm. Provinz seit 15 v. Chr., im N. bis an und über die Donau reichend (mit Einschluß des von Kelten bewohnten Vindelicien), westlich vom Lande der Helvetier in Gallien, südlich von Transpadana und Venetia und östlich von Noricum begrenzt, also das heutige Graubünden, Tirol, den [615] Süden von Bayern, den Osten von Württemberg und der Schweiz und die italienischen Alpen umfassend (s. Karte »Germanien«). Letztere wurden schon durch Augustus mit Italien vereinigt. Nun ging die Südgrenze, das Tal der Rienz einschließend, über Brixen, Meran, nördlich von Chiavenna, über den St. Gotthard und den Kamm der Lepontischen und Poeninischen Alpen. Im 2. Jahrh. n. Chr. wurden die Alpes Poeninae (obere Rhonetal) losgelöst und zu einer eignen Provinz gemacht. Unter Diokletian wurde R. geteilt in Raetia prima im S., mit der Hauptstadt Curia (Chur), und Raetia secunda im N. Das Land enthielt die Quellen fast aller Oberitalien durchfließenden Alpenflüsse und den ganzen Anus (Inn). Auch die nördlichen Spitzen der Seen Oberitaliens, des Lacus Verbanus, Larius und Benacus, fallen noch nach R. in seiner weitesten Ausdehnung. Die Rätier waren ein wildes, räuberisches Gebirgsvolk, das den Angriffen der Römer, denen es erst im 2. Jahrh. v. Chr. bekannt ward, den tapfersten Widerstand entgegensetzte, aber nach mehrjährigem Kampfe gegen Drusus und Tiberius der römischen Übermacht erlag. Der Meinung der Alten nach waren sie mit den Etruskern verwandt, und die neuere Forschung (L. Steub) hat Gründe zur Unterstützung dieser Ansicht gefunden. In den letzten Zeiten des weströmischen Reiches fast verödet, hob sich R. erst wieder, nachdem es von den Ostgoten gegen Ende des 5. Jahrh. in Besitz genommen worden war. Nach Theoderichs Tode breiteten sich die Bajoarier (Bayern) auch über R. aus. Unter den Städten waren Tridentum (Trient) und Augusta Vindelicorum (Augsburg) die bedeutendsten. Bojodurum (Passau-Innstadt) bewahrte den Namen der keltischen Bojer; ebenso führen Radasbona (Regensburg, lat. Regina Castra), Sorviodurum (Straubing), Cambodunum (Kempten) keltische Namen. Castra Batava (Passau) ist römische Gründung. Unter den Römerstraßen waren die ältesten und bedeutendsten die von Augusta Vindelicorum über Partanum (Partenkirchen), Veldidena (Wilten), den Brenner etc. nach Verona und die von Augusta Vindelicorum über Brigantium und Curia nach Mediolanium. Vgl. Planta, Das alte R. (Berl. 1872); Campell, Historia raetica (hrsg. von Plattner, Bas. 1887–90, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 615-616.
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