Stottern und Stammeln

[72] Stottern und Stammeln, eine fehlerhafte Sprachweise, regelwidrige Lautbildung und Lautverbindung, die nicht auf einem fehlerhaften anatomischen Bau der Sprachorgane, sondern auf deren fehlerhafter, besonders bei jüngern Individuen häufiger, Beherrschung durch den Willen beruht. Dieser Fehler tritt zurück oder verschwindet, wenn das stotternde Individuum für sich allein spricht, wenn es singt, mit Pathos deklamiert etc. Sobald aber diese den Stotternden unbefangen machenden Einflüsse wegfallen, tritt ein Mißverhältnis zwischen den Bewegungen ein, die zur Lautbildung, und denjenigen, die zur Ausatmung dienen. Der Stotternde verweilt nämlich bei seinen Sprechversuchen unwillkürlich auf der jeweiligen Artikulation der Sprachorgane zu lange und vermag den Vokal nicht unmittelbar anzufügen, so daß der exspiratorische Fluß der Sprache durch die zur Lautbildung erforderlichen Muskelaktionen nicht augenblicklich, wie beim normalen Sprechen, sondern anhaltend unterbrochen wird. Das Stottern erscheint daher als ein Sprachfunktionsfehler, der darin besteht, daß die Muskelkontraktionen, die wir zum Zweck der Lautbildung vornehmen, nicht von den Ausatmungsbewegungen überwunden werden können, wie es eigentlich geschehen sollte. Das Mißverhältnis beruht sehr häufig auf Nachahmung (bei stotternden Eltern), durch wirkliche Erblichkeit (ohne Nachahmungsgelegenheit) scheint es seltener zustande zu kommen. In andern Fällen entsteht das S. durch eine falsche Erziehung und Gewöhnung der für die Sprache tätigen Muskelgruppen. Bei allen Kindern besteht in[72] einer gewissen Zeit der Sprachentwickelung ein Mißverhältnis zwischen der Lust an Lautnachahmung und der Geschicklichkeit der Artikulationsmuskeln. Die Beseitigung des Stotterns erfordert immer längere Zeit und Geduld, zumal wenn das Übel schon lange gedauert hat. Der Stotternde muß tief einatmen, mit voller Lunge und mit enger Stimmritze ausatmen lernen; die gewaltsame Aktion der lautbildenden Organe muß mechanisch verhindert und der Fluß der Rede durch rhythmische Hilfsmittel herbeigeführt und erhalten werden. Zu diesem Zwecke müssen besondere sprachgymnastische Übungen unter der Leitung eines mit der Natur des Stotterns vertrauten Lehrers angestellt werden. Abgesehen vom eigentlichen Stottern, gibt es auch noch eine Unfähigkeit, gewisse Sprachlaute zu bilden, das Stammeln. Die Fehler, die man hierzu rechnen muß, sind fast so zahlreich, als es verschiedene Buchstaben gibt. Bemerkenswert ist ein Stammeln, das in Gestalt fehlerhafter Verbindung von Silben und Wörtern bei Kindern von 9–10 Jahren öfter als Symptom des Veitstanzes vorkommt. Gebildetere Personen, die in der Jugend an einem solchen Fehler litten, lernen zuweilen allmählich den Fluß der Rede dadurch herstellen, daß sie beliebige fremdartige Töne, Silben oder selbst Wörterstellenweise ihrer Rede beimischen und damit die Pausen ausfüllen, die sonst entstehen würden. Vgl. Merkel, Anthropophonik (Leipz. 1857); Kußmaul, Die Störungen der Sprache (3. Aufl., das. 1885); A. Gutzmann, Das Stottern und seine gründliche Beseitigung (6. Aufl., Berl. 1906, 2 Tle.); H. Gutzmann, Vorlesungen über die Störungen der Sprache (das. 1893), Des Kindes Sprache und Sprachfehler (Leipz. 1894) und Das Stottern (Frankf. 1898); Coën, Therapie des Stammelns (Stuttg. 1889) und Das Stotterübel (das. 1889); Denhardt, Das Stottern, eine Psychose (Leipz. 1890); Ssikorski, Über das Stottern (deutsch, Berl. 1891); Ernst, Das Stottern und seine Heilung (das. 1892); Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen, Heft 1 u. 2 (das. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 72-73.
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