Stottern

[310] Stottern und Stammeln sind zwei verwandte Sprachfehler, welche oft eine Folge krankhafter oder fehlerhafter Ausbildung der Sprachorgane, ebenso oft aber auch Folge übler Angewöhnung sind. Das Stottern besteht in der Unfähigkeit, gewisse Vocale oder wol auch Consonanten überhaupt oder mit der gehörigen Leichtigkeit auszusprechen, welches eine plötzliche Hemmung im Sprechen zur Folge hat und den Stotternden veranlaßt, den vorhergehenden Buchstaben schnell zu wiederholen oder zu dehnen. Dabei macht er bei den Anstrengungen, den schweren Laut zu erzeugen, die seltsamsten Grimassen und Geberden, wird roth und blau, verdreht die Augen, schwitzt und bewegt wol auch Hände und Füße. Andere schnalzen mit der Zunge, zittern mit den Augenlidern und lassen den Speichel aus dem Munde fliegen. Nicht jedes Mal, wenn der schwierige Buchstabe in der Rede vorkommt, pflegt das Stottern sich einzustellen, sondern nur von Zeit zu Zeit. Bei einer aufgeregten Nerven- und Gemüthsstimmung wird es stärker, und am wenigsten kommt es vor, wenn der daran Leidende ganz unbefangen ist und nicht an sein Übel denkt. Merkwürdig ist, daß der Stotternde das schwierige Wort alsbald leicht auszusprechen vermag, wenn man es ihm vorsagt. Des Morgens pflegt das Stottern heftiger zu sein als des Abends, ebenso bei naßkaltem Wetter, bei schnellem Wechsel der Temperatur und Witterung, nach Ermüdung und Anstrengung der Stimme, Trunkenheit und jede Art von Unwohlbefinden. Welches die nächste örtliche Ursache des Stotterns sei, ist lange zweifelhaft geblieben. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, daß die Stotternden geläufig flüstern, die meisten auch ohne Anstoß singen und declamiren können. Man ist endlich darin übereingekommen, daß die nächste Ursache des Stotterns ein momentan eintretender krankhafter Zustand des Kehlkopfs, der Stimmritze, ihrer Muskeln und Nerven sei. Es tritt ein plötzlicher Krampf in den Muskeln der Stimmritzbänder ein, welcher zur Folge hat, daß der Wille seine Herrschaft über dieselben nicht auszuüben vermag. Dieser Krampf tritt besonders dann ein, wenn in einer leidenschaftlichen Aufregung (wie Zorn, Schreck, Angst, lebhafter Freude) die Worte lebhaft und schnell hervorgestoßen werden, wenn aus Schüchternheit und Blödigkeit, Bewußtsein des Fehlers der Sprechende auf die Erzeugung der Laute reflectirt und dann die Stimmorgane selbst in den krampfhaften Zustand versetzt, oder endlich wenn ein wirkliches körperliches Leiden vorhanden ist, wie Epilepsie, Nervenfieber, Überwachung, Unreinigkeit im Darmkanale, zurückgetriebene Hautkrankheiten, Verletzungen des Kopfes, des Rückenmarks, der Nerven und dergl., Tritt das Stottern erst in Folge von solchen Krankheiten ein, dann verschwindet es auch wieder bei Wiedereintritt der Gesundheit. Eine häufige Ursache des Stotterns bei Kindern ist Angewöhnung oft in Folge von Nachahmung, welche um so schwerer abzugewöhnen ist, je eingewurzelter sie durch die Länge der Zeit ist. Um das Stottern abzugewöhnen, hat man viele Mittel in Anwendung gebracht; am besten ist, daß man den Stotternden anhält, stark und kräftig während des Sprechens ein- und auszuathmen, gelassen und ohne Anstrengung zu sprechen, langsam, nicht mit hoher, sondern mehr mit tiefer Stimme zu sprechen und beim Sprechen die Aufmerksamkeit von der Articulation ab auf die Stimme zu lenken. Dabei kann man dem Stotternden mit äußern Mitteln zu Hülfe kommen, welche ihm die Anwendung dieser Regeln erleichtern, und dies geschieht von solchen Personen, welche sich speciell mit der Heilung von Stotternden, zuweilen unter dem Schleier des Geheimnisses, beschäftigen. – Das Stammeln unterscheidet sich von dem Stottern zunächst dadurch, daß nicht eine vorübergehende, sondern eine bleibende Unfähigkeit stattfindet, gewisse Buchstaben auszusprechen. Der Stammelnde stockt aber deswegen nicht in der Rede, sondern er producirt den betreffenden Buchstaben nur unvollkommen oder setzt an seine Stelle einen andern verwandten. So können sehr viele das r nicht richtig aussprechen, indem sie dasselbe nicht durch ein Erbeben der Zungenspitze hervorbringen, sondern dafür einen ähnlichen Laut am Gaumen erzeugen, wol auch einen w- oder l-artigen Laut aussprechen; sehr häufig findet auch eine fehlerhafte Aussprache des l statt. Selten ist es, daß auch Vocale unrichtig ausgesprochen werden. Die Kinder, wenn sie sprechen lernen, stammeln stets, weil ihnen das Articuliren der Laute noch schwer fällt und sie die einzelnen Buchstaben untereinander verwechseln. Wenden nun die Ältern nicht die gehörige Sorgfalt darauf, daß die Kinder ihre Aussprache verbessern, so behalten sie oft die fehlerhafte Aussprache einzelner Buchstaben bei, welche sie später, wo die Sprachorgane ihre Geschmeidigkeit und Biegsamkeit verlieren, gar nicht oder nur mit großer Mühe verbessern können. Will man einen Stammelnden, welcher übrigens gesund ist und richtig organisirte Sprachwerkzeuge hat, heilen, so kann dies nicht anders geschehen, als daß man ihm zeigt (wie man dies beim Unterricht der Taubstummen zu thun pflegt), wie die Sprachwerkzeuge gestellt und bewegt werden müssen, um die ihm schwierigen articulirten Laute hervorzubringen, und daß man ihn hernach zu fleißiger Übung anhält. Oft kann man mit Erfolg den Stammelnden zur Aussprache eines Buchstabens bringen, wenn man ihn durch einen verwandten Buchstaben zu jenem hinführt, z.B. um ihm k aussprechen zu lehren, ihn d sagen läßt und ihm dann die Zungenspitze mit zwei Fingern niederdrückt. Will er dann d sprechen, so wird er endlich von selbst das k hervorbringen. Zuweilen sind auch Fehler der Lippen, des Gaumens, der Zunge, Mangel des Zäpfchens, Mangel der Zähne oder fehlerhafte Stellung derselben, Geschwüre im Munde und dergl. Ursache des Stammelns, oder Schwäche, Lähmung und Krampf der Zunge, allgemeine Nervenleiden und dergl. haben Stammeln zur Folge. Plötzlich eintretendes Stammeln geht häufig dem Schlagfluß voraus. In allen diesen [310] Fällen wird ärztliche Hülfe nothwendig. Vgl. Otto: »Das Geheimniß, Stotternde und Stammelnde zu heilen, nebst einer Fibel für Stotternde« (Halle 1832).

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 310-311.
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