Stottern

[882] Stottern, 1) (Balbuties, Paralalia respiratoria s. syllabaris), momentanes Unvermögen ein Wort od. eine Sylbe hervorzubringen, ein häufig bes. bei jüngeren Individuen vorkommender Sprachfehler; meistens sind dabei zwar alle zum Sprechen erforderlichen Organe anatomisch vollkommen normal gebildet u. daher fähig ihren Functionen völlig Genüge zu leisten, so daß auch das normale Sprechen oft gelingt, wenn nicht ein das Individuum befangen machender Einfluß wirkt. Sonst aber stellt sich ein Mißverhältniß zwischen Articulation u. Exspiration ein, wobei der Stotternde bei seinem Versuche zu sprechen, unwillkürlich auf der Articulation der Sprachorgane zu lange verweilt u. den Vocal nicht unmittelbar hervorzubringen vermag, so daß der Fluß der Sprache durch die articulatorischen Muskelbewegungen nicht, wie normal nur momentan, sondern anhaltend unterbrochen wird. Man kann das S. physiologisch als einen Sprachfunctionsfehler bezeichnen, welcher dadurch entsteht, daß die articulatorischen Muskelcontractionen von den exspiratorischen nicht überwunden werden können. Die Nerventhätigkeit der den exspiratorischen Druck bewirkenden Organe steht gegen die der articulirenden Organe in Mißverhältniß. Dieses mag durch eigenthümliche Körperzustände bedingt sein, ist aber zum Theil in einer falschen Erziehung u. Gewöhnung der beiden Muskelgruppen begründet. Entsteht. der Fehler in der Kindheit, so wächst er von der Zeit an, wo sich die Gemüthsbewegungen lebhafter entwickeln, wo das Gefühl der Angst u. Scham mächtig wird, oft bis zu entsetzlichem Grade, so jedoch, daß man bei der nöthigen Ruhe durch starke Willenskraft immer noch das Mißverhältniß mildern u. beseitigen kann. Das S. äußert sich bei verschiedenen Individuen verschieden, u. Jeder sucht sich bestmöglich zu helfen. Manche trennen den Consonanten vom dazu gehörigen Vocale ganz ab, Andere suchen durch gewisse Mitbewegungen den Vocal herauszuzwingen, noch Andere wiederholen die vorhergehende Sylbe, wie um einen Anlauf zu nehmen, od. sie bringen die gewünschte Sylbe nur unvollkommen hervor u. wiederholen sie mehrmals, bis es gelingt, od. schieben einen Hülfslaut ein, welcher die Hervorbringung der Sylbe vermitteln soll. Manchen, bes. Mädchen, macht die Articulation der reinen Vocale mehr Schwierigkeiten, als die der Consonanten. Die Behandlung des S-s kann nur langsam Erfolge erzielen. Die Hauptaufgabe ist richtig, d.h. mehr mit den Rippen inspiriren u. die Luft langsamer, mit mehr verengter Stimmritze exspiriren zu lernen, sodann müssen die Articulationsorgane mechanisch verhindert werden, daß sie sich nicht so gewaltsam contrahiren u. der Fluß der Rede durch rhythmische Hülfsmittel herbeigeführt u. erhalten werde. Beschränkt sich der Sprachfehler auf die Unfähigkeit, gewisse Sprachlaute zu bilden, so entsteht ein Stammeln (Paralalia articulatoria s. literalis), u. dieses Übel ist entweder Folge einer angeborenen od. erworbenen anatomischen Abnormität eines Articulationsorganes od. einer fehler- od. mangelhaften Übung u. Gewöhnung. Man hat je nach dem Sitz der Ursache dieses Sprachfehlers, sei es in Zunge, Gaumen, Zähnen etc. verschiedene Arten unterschieden, zuweilen zeigen sich Fehler in der Verbindung der Sylben zu Wörtern u. der Worte mit einander, gestörter Redefluß, u. zwar können, wie beim S., alle Laute für sich richtig ausgesprochen werden, auch ohne Anstoß gesungen u. declamirt werden, beim gewöhnlichen Sprechen dagegen ist der normale Fluß u. Rhythmus so gestört, daß manche Sylben u. noch mehr Vocale verschluckt u. unterdrückt, andere dagegen u. selbst ganze Wörter mehrmals u. zwar sehr schnell wiederholt werden, bis endlich das nächste fehlende Wort gewaltsam herausgepreßt wird (Psellismus, Battarismus). Bei Kindern kommt diese Art des Stammelns zuweilen in Folge der Chorea (Ballismus) vor, zuweilen auch in Folge von Würmern. Schwindet das Krankhafte aus den Articulationsbewegungen, so zeigt sich ein milderer Sprachfehler, das Lallen (Dahlen, Daltschen, Paralalia balbuties), welcher nur in einer Laxität, Unbestimmtheit besteht, vermöge welcher die einzelnen Articulationen sich nicht scharf u. bestimmt von einander abgrenzen u. dem Ohre in dieser Gesondertheit vernehmbar werden, sondern sich verwischen u. mit einander gleichsam zusammenfließen.[882] Dieser Sprachfehler hat seinen Grund in einer noch nicht vollendeten Technik der Sprachorgane (wie bei kleinen Kindern), od. in Anschwellung od. zu großer Zunge u. der übrigen Mundorgane, od. in vollständigem Verlust der Zähne, od. in einer Gehirnaffection (Trunkenheit, Hirnentzündung); doch sind hierher auch manche durch bloße falsche Angewöhnung u. Trägheit unterhaltene Sprachgebrechen zu rechnen, welche durch Willenskräftigung überwunden werden können. Vgl. Schulteß, Das Stammeln u. S., Zür. 1810; Dieffenbach, Die Heilung des S-s durch eine neue chirurgische Operation, Berl. 1841; Klencke, Die Fehler der menschlichen Stimme u. Sprache, Kassel 1851; Angermann, Das S; Berl. 1853; 2) von Zahnrädern keinen gleichmäßigen, ruhigen Gang haben, sondern mit den Zähnen aufeinander stoßen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 16. Altenburg 1863, S. 882-883.
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