Tabu

[275] Tabu (Tapu, Tabun, Tambu), nach einem aus der Sprache der Südseeinsulaner herrührenden Worte soviel wie unverletzlich, verboten (ta = sehr im Neuseeländ., pu = bezeichnen, also tapu = streng bezeichnet, verboten). Das T. ist für die Ozeanier geradezu charakteristisch, aber es findet sich auch bei andern Naturvölkern und hat sich in Spuren auch bei den Kulturvölkern erhalten (s. Knotenknüpfen). Die Wirkungen des T. äußern sich vorwiegend in wirtschaftlicher und privatrechtlicher Beziehung: droht in Melanesien oder Polynesien Hungersnot, oder steht ein Fest bevor, so tabuiert der Häuptling gewisse Speisensorten, Kokosnüsse, Bananen, Hühner, Schweine etc., die dadurch zeitweilig dem Genuß entzogen werden; oder aber die Felder werden tabuiert bis zur Reifezeit der Früchte; oder die Europäer tabuieren das ihnen von den Eingebornen abgetretene Land, das nun von den frühern Besitzern nicht mehr betreten werden darf; kurz, überall waltet, wenigstens äußerlich, der Charakter des T. als einer Schutz- und Polizeieinrichtung vor, auch in den persönlichen Eigentumsmarken, die der Besitzer an Fruchtbäumen, [275] Feldern etc. anbringt. Indessen sind die eigentlichen innern Beweggründe des T. religiöser Art, es haftet außerdem ursprünglich nicht an den Sachen, sondern an den Personen, die es erst von sich auf andere Personen oder auf beliebige Gegenstände übertragen, und zwar selbst durch zufällige Berührung. Auf manchen polynesischen Inseln ist das T. der Häuptlinge so stark und gewissermaßen ansteckend, daß sie nicht einmal den Erdboden mit den Füßen berühren dürfen, weil er sonst tabuiert und der Benutzung entzogen würde. Sie werden deshalb bei Ausgängen von ihren Dienern umhergetragen. In Tahiti wurden früher die Vornehmsten sogar gefüttert, damit sie nicht durch Berührung der Speisen diese dem übrigen Volk entzögen; sie durften auch in kein Haus gehen als in ihr eignes, denn sonst hätte es niemand mehr betreten dürfen. Das mächtigste T. ist allen den Personen und Dingen eigen, die mit Leichen zu tun haben oder überhaupt in irgend einer Beziehung zu den Toten stehen. Hier liegt denn auch nach Schurtz die Wurzel des ganzen Brauchs, die allerdings aus den spätern Entwickelungsformen kaum mehr zu ahnen ist. Es ist die Furcht vor den Toten, die den Bruch des T. hindert und wirtschaftlich direkt erziehend auf die Ozeanier wirkt. Da nun die Ahnengeister der Häuptlinge mächtiger sind als die des Volkes, ja, da jene oft selbst als Atuas (Geister) betrachtet werden, so vermögen sie beliebig das T. zu verhängen und finden stets blinden Gehorsam für ihre Anordnungen. Daß diese Macht in erster Linie und in weitestem Maße wirtschaftlich und politisch ausgenutzt wird, ist naheliegend genug. Im übrigen sind jedoch auch die religiösen Beschränkungen in Ozeanien ungeheuer mannigfaltig und zahlreich, so daß eine Aufzählung hier unmöglich ist. Dem T. der Südsee entspricht auf Timor und dessen Nachbarinseln das Pamali, das früher auch auf Java und Sumatra in Geltung war und es bei den primitiven Völkern Indonesiens noch ist. Die Bedeutung des Wortes Pamali ist dieselbe wie die des Wortes T. Die sichtbaren Ausdrucksmittel des vollzogenen T. sind ebenfalls sehr mannigfaltig. In Polynesien richtete man Bilder des Schutzgottes (Tiki) auf, in Tonga und Samoa Geflechte und Tapastücke in Gestalt von Eidechsen und Haien; auf Amboina stellte man die Nachbildung einer Grabhütte in die Felder, die ja immer noch von dem abgeschiedenen Besitzer bewacht wurden. In andern Erdteilen und Ländern, wo das T. in mehr oder minder modifizierter Gestalt vorhanden war oder ist, hat man ähnliche Abgrenzungsmittel: sogen. Fetische in Afrika, Fäden in Europa etc. Beispiele aus diesem bieten das mit einem Faden eingehegte Orakel des Trophonios in Griechenland, in der deutschen Sage aber der mit einem Seidenfaden umzogene Rosengarten des Laurin, das mit Haselruten und der heiligen Schnur (véboud) umsteckte Heiligtum u. a. Dadurch, daß in der Südsee die Europäer unwissentlich oder doch unachtsam öfters gegen die unzähligen T. verstießen, ist manche Feindseligkeit zwischen ihnen und den Eingebornen entstanden. Vgl. Waitz-Gerland, Anthropologie der Naturvölker, Bd. 6 (Leipz. 1872); Schurtz, Urgeschichte der Kultur (das. 1900); van Gennep, Tabou et totémisme à Madagascar (Paris 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 275-276.
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