Tatiānos

[276] Tatiānos, 1) aus Assyrien, lebte in der zweiten Hälfte des 2. Jahrh., war Rhetor u. lehrte wandernd an verschiedenen Orten; in Rom, wo er zu Justinus Martyr in Beziehung stand, trat er, unbefriedigt von der griechischen Philosophie u. abgestoßen von dem heidnischen Leben, zum Christenthum über, bestritt nun in einer Schrift (λόγος πρὸς Еλληνας, herausgeg. von W. Worth, Oxf. 1700, u. von Otto im 6. Bd. des Corpus Apologetarum christ. saeculi II., Jena 1851) das Heidenthum u. vertheidigte das Christenthum. Nach Justinus' Tode kehrte er in sein Vaterland zurück u. überließ sich immer mehr einer schwärmerischen Ascese u. einem gnostischen Dualismus. So verwarf er mit seinen Anhängern (Tatianern) nach seiner Schrift über die christliche Vollkommenheit nach dem Muster Christi den Ehestand, den Genuß des Fleisches, des Weines, selbst beim Abendmahl etc., daher auch seine Anhänger Enkratiten genannt. Er soll eine der Valentinischen ähnliche Äonenlehre gehabt, einen Gegensatz zwischen dem Alten u. Neuen Testamente u. ein feindseliges Verhältniß zwischen der Schöpfung des Demiurgen u. der höheren Welt angenommen haben. Vgl. Daniel, T. der Apologet; Halle 1837. Er schr. auch eine Evangelienharmonie (Tatiani evangelium, Ηὐαγγέλιον διὰ τεσσάρων), welche aus den canonischen Evangelien mit Weglassung aller Stellen, welche auf Jesu Abstammung von David Bezug hatten, zusammengestellt war. Zusätze dazu waren aus dem Evangelium der Hebräer (daher es auch Ηὐαγγέλιον διὰ πέντε heißt); vgl. Semisch, Tatiani Diatesseron, Bresl. 1856. Diese Evangelienharmonie ist im Urtext nicht mehr vorhanden, aber nach den, angeblich vom Bischof Victor von Capua im 6. Jahrh. aus der Vulgata beigeschriebenen entsprechenden Stellen ist die altfränkische Evangelienharmonie (Tatians Evangelienharmonie) gemacht. Der Verfasser dieser Harmonie ist unbekannt; Grimm vermuthet, er habe im überrheinischen Gallien, vielleicht in einer austrasischen Landschaft, in der ersten Hälfte des 9. Jahrh. gelebt. Die Arbeit bleibt nächst Otfrieds Evangelienharmonie die ansehnlichste Quelle für die Althochdeutsche Sprache. Die Handschrift wurde zuerst von Junius in Bonav. Vulcanius' Bibliothek aufgefunden; herausgeg. von v. Palthe, Greifsw. 1706, im 2. Band von Schilters Thesaurus antiquit. teuton. u. von Schmeller, Wien 1841; das Evangelium des Matthäus gab Schmeller, Stuttg. 1827, heraus. 2) T., unter Arcadius Präfect des Orients, von Rufinus verfolgt. Er u. sein Sohn Proculus, Präfect von Constantinopel, wurden der Raubsucht u. Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt; T. wurde deshalb in das Gefängniß geworfen u. dann exilirt, Proculus aber, welcher geflüchtet u. auf Veranlassung des Vaters, dem man Schutz u. guten Ausgang der Sache verheißen hatte, zurückgekehrt war, wurde enthauptet.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 17. Altenburg 1863, S. 276.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: